Fluegel der Dunkelheit
Veit zu
sein, gab ihr einen Lichtblick, zumal Frau Sperling sie immer so
verwöhnte. Außerdem fielen ihr bei Dunkelheit mit Sicherheit eher
eventuelle Verfolger auf, als am Tage. Sie musste davon ausgehen,
dass Klingberger wieder auf freiem Fuß war, falls Traian ihn nicht
ins Gefängnis gesperrt hatte. Nur kurz wollte sie zu Hause vorbei
fahren, um sich umzuziehen. Bereits auf dem letzten Treppenabsatz
fiel ihr ein kleiner weißer Zettel auf ihrer Fußmatte auf.
Wer könnte sie
aufgesucht haben? Liana hob die Karte auf und betrachtete ihre eigene
Visitenkarte. Offensichtlich hatte sie diese heute Nachmittag
verloren, als sie die Wohnung verließ. Während sie den Schlüssel
umdrehte, damit auch die Visitenkarte, die sie in der gleichen Hand
hielt, entdeckte sie einen braunen Schmutzfleck. Wie ein Geistesblitz
fiel ihr Traian ein. Er war hier gewesen. Neulich nach seiner
panischen Flucht musste er die Karte, die sie ihm noch geben wollte
und dann vor Schreck fallengelassen hatte, im Wald gefunden haben.
Ihr Herzschlag verdoppelte sich augenblicklich.
Traian!
Sie schaute sich
suchend um, doch auf dem Treppenabsatz blieb es still. Sie spürte
eine beißend Leere in sich. Am liebsten hätte sie vor Enttäuschung
geschrien, während sie die Tür hinter sich schloss. Warum hatte er
nicht seine Karte dagelassen, sie hätte ihn wenigstens anrufen
können. So gab es nichts von ihm, keine Telefonnummer, keine
Adresse, ja nicht mal einen vollständigen Namen. Als Polizist hatte
Traian bestimmt nicht sehr oft die Möglichkeit, ein paar private
Stunden zu genießen, eigentlich ähnlich wie ihre Arbeit als Ärztin.
»Traian,
Traian, Traian«, flüsterte Liana. Ihre quälende Sehnsucht
nach ihm drängte einige Tränen hervor. In diesem Augenblick hätte
sie alles für ein kurzes Treffen mit ihm gegeben. Dieses fantastisch
prickelnde Gefühl, als er sie berührte. Ein Kuss von ihm würde sie
ihren Verstand kosten. Sie versuchte sich auszumalen, wie ihre Lippen
sich auf seinen anfühlten, wie ein Kitzeln durch sie
hindurchströmte. Allein diese Vorstellung entfachte ein kleines
Feuerwerk in ihrem Schoß. Noch immer stand sie im Flur, mit dem
Rücken an die Tür gelehnt. Wie konnten Gedanken an einen Mann so
intensiv und so wirklich sein? Sie bemerkte, wie der Ärger in ihr
hoch kroch. Sie hatte die Gelegenheit, Traian zu sehen, verpasst.
Ihre Sehnsucht nach ihm würde sie in den Wahnsinn treiben. Es gab
nur dieses Waldstück, welches eine Verbindung zu ihm zu sein schien.
Vorgestern im Wald hätte sie ihn fragen sollen, nach seiner
Telefonnummer, aber auch das hatte sie vermasselt. Das war dumm von
ihr, richtig dämlich. Jetzt war erst recht keine Zeit, sich mit ihm
zu treffen. Hannah und Veit warteten. Sie atmete tief, als sie ins
Schlafzimmer zum Schrank ging. Sie nahm eine Jacke heraus und schob
die Schiebetür mit dem Spiegel zu.
Doch statt ihres
eigenen Spiegelbilds sah sie, gleich einer Vogelperspektive, sich
selbst durch jenen Wald laufen. Wie gefesselt starrte sie auf die
Szene, die klar wie ein Film vor ihr ablief. Klingberger folgte ihr,
dabei wirkte der Kerl so stümperhaft, dass es Liana schon peinlich
war, den Kerl nicht bemerkt zu haben. Traian hielt sich im Gebüsch
versteckt. Er hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Sie sah sich zum
Auto gehen und davonfahren. Die Szenerie verblasste, lediglich ihr
Spiegelbild blieb übrig.
Plötzlich schien
ihr alles klar zu sein. Traian war gar nicht an ihr interessiert. Es
ging ihm allein um Klingberger. Vermutlich war sie dort zu einem
ungünstigen Zeitpunkt aufgekreuzt, deshalb hatte Traian sie zu ihrem
Auto begleitet, er wollte sie loswerden. Nein, er hatte sich ihr
gegenüber nicht abweisend verhalten und welchen Grund sollte er
heute mit seinem Besuch hier verfolgt haben? Da war es wieder, dieses
Gefühl von schmerzender Sehnsucht. Augenblicklich kam sie sich
lächerlich vor. Eine Erscheinung in ihrem Spiegel, wie konnte sie
überhaupt darüber nachdenken? Sie betrachtete sich selbst.
»Ich glaube, ich
sehe dich das erste Mal«, flüsterte Liana sich zu. War sie das
wirklich? Ihre Gesichtszüge erstarrten. Das Spiegelbild veränderte
sich, wurde immer fremder, bis sie darin Alina deutlich erkannte. Ein
Gemisch aus Liana und Alina. Es sah eigenartig, erschreckend aus.
Liana wich ein Stück zurück.
Alina öffnete die
Lippen. »Hab keine Furcht. Versuche dich zu öffnen, die Tür zu dir
selbst aufzustoßen. Du kannst so viel mehr.« Liana sah auf das
Spiegelbild. Alina
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