Fluegellos
der Stunde passiert, in der er nichts von ihr gehört hatte? Als sie vorhin telefoniert hatten, war ihre Stimme noch klar gewesen, lebendig und glücklich. Jetzt war sie leer.
Was war mit der Nina passiert, die auf jeden Gedanken reagierte, vor allem, wenn der Rest des Raumes still war?
»Wie viele hast du denn schon auf die Art zusammengebracht?«, fragte Emilia weiter.
»Viele. Hundert?«
Emilia nickte anerkennend und notierte sich etwas. Sie merkte es wirklich nicht. Sie hatte alles ausgeblendet, jede Emotion stumm geschaltet, die sie darauf hingewiesen hätte, dass es Nina nicht gut ging.
Valentin trat einen Schritt zurück, atmete durch und drückte die Tür laut wieder ins Schloss. »Ich bin zu Hause!«, rief er, so fröhlich es ging. Der leicht besorgte Unterton ließ sich jedoch nicht vertreiben.
Wie erwartet, stöhnte Emilia sofort genervt auf. Doch als er zurück ins Wohnzimmer kam und sein Blick erneut auf Nina lag, spielte seine Freundin keine Rolle.
Ninas Augen waren noch immer so kalt und leer, wie vorher. Alles, was sich geändert hatte, war, dass sie jetzt ihn ansah, oder zumindest fast. Sie blickte knapp an ihm vorbei.
»Valentin, ich bin hier immer noch am Arbeiten«, blaffte Emilia ihn sofort an.
Er hob die Schultern. »Mach weiter. Ich gehe gleich in mein Zimmer. Hallo, Nina!«
»Hi.« Mehr kam nicht aus ihrem Mund, doch kaum hatte Valentin etwas gesagt, war ihr Blick zu seinen Augen gewandert. Und das war auch schon alles.
Er legte die Stirn in Falten. »Ist alles in Ordnung bei euch?«, fragte er. Er musste die Sorge in seinem Tonfall nicht spielen.
»Alles gut«, knurrte Emilia und nickte in Richtung der Zimmertür. Sie wollte, dass er so schnell wie möglich verschwand. Wie üblich.
»Nina sieht aber nicht so aus«, beharrte er.
»Valentin!« Sofort wurde Emilia aggressiver und knallte ihr Notizbuch zu. Nina erschrak nicht, als der plötzliche Schlag die Luft im Zimmer zum Vibrieren brachte. Ihr Blick wechselte nur zu Emilia. »Verschwinde. Jetzt.«
Valentin musste sich gegen das Bedürfnis wehren, auf sie zuzutreten, sie grob aufzurichten und ihr seine Meinung ins Gesicht zu brüllen. Er wollte das nicht in Ninas Gegenwart tun, auch, wenn er gerade daran zweifelte, dass sie überhaupt gegenwärtig war.
»Klar«, murmelte er also, nickte und ging an Nina vorbei zur Schlafzimmertür. Valentin konnte sich einen letzten Blick auf sie nicht verkneifen. Sie hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und riss sich unruhig an den Nägeln. Ein warnender Blick von Emilia ließ ihn die Tür zuziehen.
Mist.
Irgendetwas war in der letzten Stunde mit Nina passiert, und er musste herausfinden, was es war. Irgendetwas hatte sie traumatisiert. Oder zumindest hatte Alex ihr irgendetwas erzählt, das sie jetzt beschäftigte. Und das so sehr, dass sie ihre Umgebung komplett ausblendete.
Alex.
Er musste Alex anrufen. Jetzt. Er musste ihn fragen, was genau er Nina erzählt und wie sie reagiert hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie sich jetzt so verhielt. Aber vielleicht war auch etwas während der Autofahrt hierher passiert, und wenn, dann wusste er nicht, wie er das herausfinden sollte. Er konnte nur hoffen, dass Alex ihm seine Frage beantworten würde.
Er holte sein Handy aus der Hosentasche und setzte sich am anderen Ende des Zimmers aufs Bett, damit Emilia das Gespräch nicht mitbekam. Er wählte Alex’ Nummer.
Es tutete.
»Nimm ab«, zischte Valentin.
Es tutete wieder. Und wieder.
»Mir ist es scheiß egal, ob du gerade am Malen bist. Nimm jetzt ab, verdammt!«, zischte er erneut. Mit jedem Tuten wurde ihm mulmiger in der Magengegend, mit jedem Tuten war er sich sicherer, dass irgendetwas bei Alex vorgefallen sein musste.
Und dann antwortete die Mailbox.
» Mist! «, fluchte er so leise wie möglich. Er wartete auf das Piepen und fuhr in ruhiger Stimmlage fort. »Alex, Valle hier. Bitte ruf mich so schnell wie möglich zurück, sobald du diese Nachricht bekommst. Es ist wichtig. Sehr wichtig. Es geht um das Mädchen, das vorhin bei dir war.« Dann legte er auf.
Er fasste sich an den Kopf und ließ sich rücklings aufs Bett sinken, während er Emilias gedämpfter Stimme lauschte. Es nervte ihn, sie so ruhig zu hören. Es war gar nichts in Ordnung!
»Verdammt«, murmelte er und setzte sich wieder auf. Er musste irgendetwas tun, um Nina von hier – und vor allem Emilia – wegzukriegen. Oder war es vielleicht besser, sie hier zu wissen, bevor sie etwas Dummes anstellte? Immerhin
Weitere Kostenlose Bücher