Fluegellos
Stille. Für wenige Sekunden? Für Minuten? Für eine halbe Stunde? Ich hatte keine Ahnung. Ich spürte nur, wie sich sofort Gedanken in mein Bewusstsein fraßen, die ich verdrängen wollte.
Eine zweite Wiederbelebung.
Ein zweiter Tod.
Das war aus Alex’ Theorie geworden. Das Wissen, dass es keinen anderen Ausweg als den Tod gab. Ich hatte mit Punkt vier auf meiner Liste von Anfang an recht gehabt, auch, wenn ich ihn nie ausgeschrieben hatte. Es war wie, wenn man etwas suchte: Man fand es immer dort, wo man als Letztes nachsah. Oder zumindest plante, nachzusehen.
»Kann ich dir bei etwas helfen?«, fragte ich, als ich spürte, dass Emilia gleich etwas sagen würde.
»Nein, danke«, erwiderte Emilia.
Danke? Das war kein lieb gemeinter Vorschlag gewesen. Das war ein Betteln gewesen, dass sie mir etwas zu tun gab, damit ich nicht nach Hause fahren musste! »Okay«, murmelte ich jedoch nur. Sie hatte ja recht. Ich war immer diejenige gewesen, die gemeint hatte, dass sie die Journalistin war, und nicht ich. Wieso sollte sie ihre Meinung also jetzt ändern?
»Gut, treffen wir uns dann morgen wieder, um den ganzen Rest zu besprechen? Ich mache dann bis dahin einen Vertrag fertig.«
Ich nickte. Das war doch auch vollkommen egal. Dann ging ich eben morgen zu ihr, setzte meinen Namen unter einen Vertrag und erlaubte Emilia, einen Haufen Lügen zu veröffentlichen. Denn dieser Artikel war nichts anderes als ein Haufen Lügen. Schon das Thema, um das es ging, war falsch: Es ging nicht um Engel. War es nie gegangen. Es ging einfach nur um einen kaputten Menschen, der einen Wackelkontakt hatte.
»Bis morgen dann!«, hörte ich Emilia sagen. Ich wusste nicht genau, ob ich aus eigenem Antrieb die Wohnung verließ, oder ob sie mich zur Tür geschoben hatte. Jedenfalls hörte ich nach kurzer Zeit, wie die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Abgestandene Treppenhausluft hüllte mich ein. Gefolgt von Gedanken, die ich nicht einfach beiseite schieben konnte.
Ich hörte Alex’ Stimme, wie er mir mit einer unbegreiflichen Ruhe erklärte, dass es nur den Tod gab, der das Band zwischen Körper und Seele reparieren konnte. Als hätte er nicht durchschaut, dass es mich persönlich betraf und das Buch nur eine blöde Ausrede gewesen war, um eine Distanz zwischen mir und der Thematik zu schaffen. Aber was beschwerte ich mich? Ich hatte doch von Anfang an gewollt, dass das der Fall war, sonst hätte ich ihm auch sofort erzählen können, dass es um die Realität ging. Immerhin hatte das so sein Ergebnis nicht verfälscht und er war ehrlich zu mir gewesen.
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und versuchte, Klarheit in mein Sichtfeld zu bringen. Erfolglos. Der trübe Schleier, der alle Details vor mir zu verbergen schien, blieb hartnäckig bestehen.
Ich schluckte und griff nach dem Treppengeländer, das mich nach unten führen würde. Schritt für Schritt arbeitete ich mich ins Erdgeschoss, mit jeder Stufe wuchs der Stein, der sich auf meine Brust gelegt hatte, mit jeder Stufe fiel es mir schwerer, die Beine zu heben, als sog die Schwerkraft mich immer näher zu sich.
Ich brauchte einen Plan. Das hatte ich immer wieder gedacht. Dass ich einen Plan brauchte. Um diesem Engeldasein zu entkommen, um Emilia zu verklickern, dass ich sie die ganze Zeit über nur belogen hatte, und, um Valentin zu erklären, wieso er sich keine Hoffnungen machen durfte. Ich war immer nur auf der Suche nach einem Plan gewesen. Und jetzt hatte ich einen. Den Einzigen, der jedes Problem lösen konnte.
Ich wollte mir nur nicht dessen bewusst werden.
Ich tastete nach der Türklinke und stolperte nach draußen. Die Abendluft, die mir entgegenwehte, ließ meine Gedanken etwas aufklaren. Ich erkannte eine junge Frau, die mir entgegenkam und mich kurz misstrauisch ansah, bevor sie an mir vorbei ins Haus verschwand. Sah man mir so deutlich an, dass mit mir etwas nicht stimmte? Wenn ja, wieso war es Emilia nicht aufgefallen? Wieso hatte sie so getan, als wäre alles in Ordnung? Ich erinnerte mich undeutlich daran, dass Valentin sich erkundigt hatte, ob mit mir alles in Ordnung war. Aber damit hatte sich die Sache für ihn auch schon gegessen gehabt. Keine weitere Nachfrage. Kein Versuch, mit mir unter vier Augen zu sprechen.
Vielleicht sollte ich mit ihm darüber reden? Ihn anrufen, erzählen, was sich bei Alex herausgestellt hatte, ihn bitten, mich abzuholen und nach Hause zu fahren? Bei mir zu bleiben, damit ich nicht alleine war? Damit ich wenigstens eine
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