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Fluegellos

Fluegellos

Titel: Fluegellos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Cardinal
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Hand heben, um danach zu greifen. Ich war wie gelähmt.
    Gott ? War das der Brief, den ich mir die ganze Zeit herbeigewünscht hatte? War das der Brief, in dem stand, dass man mir ein Ultimatum stellte? Bat man mich, meinen Namen nicht unter diesen Vertrag zu setzen, und versprach im Gegenzug, mich von meinem Fluch zu befreien?
    Als ich letztlich die Kraft fand, um ihn aufzuheben, zitterte mein ganzer Körper und ich hatte Mühe, den Umschlag aufzureißen. Es war ein ganz gewöhnlicher Umschlag. Ganz normal. Ganz menschlich. Er hatte nichts Göttliches an sich.
    Ich zog ein gefaltetes Stück Papier heraus und betrachtete es. Normales Papier. Normaler Zellstoff. Reinweiß.
    Absolut nichts Göttliches.
    Mit zittrigen Fingern faltete ich den Zettel auseinander. Es war eine kurze Nachricht, handschriftlich verfasst. Sie wirkte beim ersten Überfliegen gezwungen, als hatte sich jemand bemüht, so ordentlich zu schreiben, wie nur möglich.
    Genug Analyse. Ich musste lesen.
    Nina,
    Ich finde es schade, dass wir nie die Möglichkeit finden, ein, zwei Worte zu wechseln. Entweder bin ich zu gestresst, oder du wirkst mit den Gedanken vollkommen abwesend. Ich möchte dich deswegen mal zum Essen einladen, ganz unverbindlich. Wenn du dich entschieden hast, klingel einfach bei mir.
    Silvio
    Ich schloss die Augen und grinste. Es war kein glückliches Grinsen. Ebenso wenig wie das Lachen, das ich ausstieß, glücklich war.
    Ich lachte mich aus.
    Das war alles, was mir noch gefehlt hatte. Eine Liebeserklärung. Von einer der wenigen Personen, die ich für vernünftig hielt.
    Ich konnte den perfekten Mann haben. Silvio.
    Valentin .
    Und gleichzeitig war nichts unmöglicher als das.
    Ich nahm das Papier mit beiden Händen und zerriss es in der Mitte. Und noch einmal. Mit jedem Riss wurde mein Blick klarer, mit jedem Riss stieg die Euphorie in mir höher. Und noch einmal. Schließlich ließ ich die Fetzen wie grobes Konfetti auf den Boden regnen.
    Ich musste diese Scheiße ein für alle Mal loswerden.
    Ich stemmte mich mit den Händen gegen die Tür und richtete mich auf. Fast ruhig tastete ich nach dem Ladegerät, das immer im Flur angesteckt war, und schloss mein Handy daran an. Ein freundlicher Ton erklang. Und noch einer.
    Zwei entgangene Anrufe. Ich musste nicht nachsehen, um zu wissen, von wem sie waren.
    Ich ignorierte es und verließ den Flur ins Badezimmer. Ich wusste erst, was ich vorhatte, als ich es tat.
    Ich drehte den Hahn auf und ließ Wasser in die Badewanne ein.
    Ich war schon einmal ertrunken.
    Und schon einmal gerettet worden.
    Fast gleichgültig trottete ich zurück in den Flur und ins Wohnzimmer. Mein Handy würde noch eine Weile brauchen, bis es genug aufgeladen war, um telefonieren zu können. Ich hatte also noch Zeit, die ich nutzen konnte, um zu Atem zu kommen und mich zu beruhigen.
    Mein Blick legte sich auf meine Pinnwand.
    1. Go tt
    2. Gehirn
    3. Umfeld
    4.
    Ich lachte wieder.
    Das waren also meine grandiosen Pläne gewesen. Kirche, Seelenklempner oder Spedition.
    Ich griff nach einem Edding, der auf meinem Schreibtisch lag, und nahm den Deckel ab. Er schwebte kurz über dem Papier, bis ich absetzte und zu schreiben begann. Erst hatte ich darüber nachgedacht, Punkt vier beschönigend zu formulieren und Notausgang zu notieren, doch es kam mir lächerlich vor.
    Drei Striche noch, dann war mein Plan perfekt.
    1. Gott
    2. Gehirn
    3. Umfeld
    4. Selbstmord
    Ich konnte nicht verhindern, dass ein zufriedenes Lächeln über meine Lippen huschte. Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir, dass mein Plan nicht perfekter sein konnte. Er würde funktionieren. So oder so. Ich würde dieses Schicksal loswerden.
    Mein Blick wanderte weiter durch die Wohnung, die ich so liebte. Auf dem Fensterbrett standen zwei Bilderrahmen, jeder schien eine andere Familie zu zeigen. Aber auf beiden war ich zu sehen.
    Janina und Jasper.
    Und meine richtigen Eltern.
    Mein Lächeln wurde noch wärmer, als ich mit dem Daumen über das Bild strich, das mich als Kind mit meinen leiblichen Eltern zeigte. Alle lächelten. Es machte mich glücklich, zu wissen, dass ich sie bald wieder sehen würde. Zumindest, wenn mein Plan nicht so funktionierte, wie ich ihn mir vorstellte.
    Ich konnte also nur gewinnen.
    Mit jeder Sekunde, die ich mich in meinem Wohnzimmer umsah, wurde ich ruhiger. Die Bücher. Vielleicht würden dort bald die kitschigsten aller Romanzen stehen. Vielleicht konnte ich dann endlich lesen, wie Romeo sich tötete, ohne in Tränen

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