Fluegellos
für den Bruchteil eines Augenblicks keine Zeit, über meinen Selbstmord nachzudenken. Und als dieser Augenblick vorbei war, bog ich gerade in eine Seitenstraße ein. Tempolimit 30.
Nein, ich würde niemanden gefährden. Ich konnte nicht das Leben eines Anderen gefährden, nur, weil ich mein eigenes nicht in den Griff bekam.
Ich bremste ab und hielt mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Es waren nur noch zwei Minuten bis zu meiner Wohnung, wenn überhaupt.
In diesen zwei Minuten würde ich mich nicht töten.
Diese Erkenntnis war ebenso erleichternd wie bedrückend. Ich hatte noch mehr als zwei Minuten zu leben. Und gleichzeitig noch mehr als zwei Minuten zu leiden.
Aber vielleicht blieb mir auch noch viel mehr Zeit.
Ich hatte keine Lust, Stunden mit der Parkplatzsuche zu verbringen, und nahm den nächsten, der mir ins Auge stach. Als meine Scheinwerfer erloschen waren und der Motor schwieg, verharrte ich noch einige Zeit im weichen Polster des Fahrersitzes.
Was jetzt?
Ja, was jetzt?
Ich warf einen Blick auf mein Handy. Der Akku war noch immer leer. Wenn Valentin versuchte, mich anzurufen, würde ich nicht rangehen können.
Kaum wollte ich aussteigen, hielt ich inne. Na und? Was erwartete ich von ihm? Dass er tatsächlich sagte Warte noch fünf Minuten, bis du dich umbringst, damit ich bei dir sein und dich reanimieren kann ?
Das würde er nicht tun. Höchstens, um mich davon abzuhalten, mich zu töten. Um dann zu sagen, dass es eine Notlüge gewesen war.
Dann musste ich ihn eben dazu zwingen.
Ich schloss mein Auto ab und ging in Richtung meiner Wohnung. Ein relativ junger Mann kam mir entgegen, der mit leuchtenden Augen meine Kurven verschlang. Ich spürte schon Wut in mir aufkochen, bevor seine Stimme überhaupt ertönt war.
Geile Titten!
»Schnauze!«, blaffte ich. Es war mir egal, dass es nur ein Gedanke gewesen war. Es war mir egal, dass eigentlich niemand wissen durfte, dass ich wusste, was andere Menschen dachten. Es war einfach abartig. Es nervte mich. Es machte mich verrückt. Es quälte mich.
»Entschuldigung?«, fragte der Mann. Er schien etwas empört.
I don’t care , dachte ich. Ist mir doch alles egal. Lasst mich einfach in Ruhe! Lasst mich einfach komplett in Ruhe, mit allem! Ich habe es mir nicht ausgesucht, Titten zu haben! Also geilt euch doch bitte an Weibern auf, die das toll finden, statt an mir, wenn ihr es nötig habt. Sperrt euch in eurer Wohnung ein und besorgt’s euch doch selbst!
»Menschen wie du gehen mir einfach tierisch auf den Sack«, zischte ich. Ich blieb nicht stehen, als ich an ihm vorbei ging. Ich hatte Angst, ihm eine zu verpassen, so wütend, wie ich gerade war. Sie waren doch alle gleich. Alle.
Außer mein ehemals bester Freund, der sich in mich verliebt hatte. Mein toller, italienischer Nachbar. Und Valentin.
Ich spürte heiße Tränen in meine Augen steigen und legte die letzten Meter rennend zurück. Ich hatte Schwierigkeiten, das Schlüsselloch zu erwischen und nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als ich die Treppe hinauf rannte, aber als ich letztlich an meiner Wohnungstür zusammensackte und den warmen Holzboden unter mir spürte, brach alles aus mir heraus.
Ihr könnt mich doch alle , jagte es immer wieder durch meine Gedanken, während ich versuchte, die Tränen aus meinem Gesicht zu vertreiben. Aber sie strömten unaufhörlich.
Scheiße! Scheiße! SCHEIßE!
Ich schluchzte und vergrub den Kopf in meinen Händen. Es war noch nie so schlimm gewesen. So sehr war ich noch nie ausgerastet.
Ich war einfach verzweifelt.
Ich schnappte stoßweise nach Luft und versuchte, alle Gedanken auszublenden. Ich wollte gar nichts mehr hören. Nichts mehr fühlen. Nichts mehr denken. Einfach nur hier an meiner Tür kauern, bis mich irgendetwas in den Tod riss. Der Hunger. Der Durst. Ein Fehler im Bauplan, der das Haus in sich zusammenstürzen ließ. Ein Einbrecher, der mich beim Versuch, die Tür aufzubrechen, erschlug.
Ich wollte einfach nur sterben.
Ich spürte einen weiteren Schwall Tränen, der sich an die Oberfläche fraß. Ich nutzte den Moment, um den Boden neben mir zu betrachten. Kurz, bevor ich zusammengebrochen war, hatte ich etwas zu sehen geglaubt.
Und das lag dort tatsächlich.
Neben mir auf dem Parkett lag ein gewöhnlicher, weißer Umschlag. Jemand hatte meinen Namen auf die Vorderseite geschrieben.
Für Nina.
Einen Moment lang stockte mir der Atem und die aufsteigenden Tränen vertrockneten noch in meinem Körper. Ich konnte nicht die
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