Fluegelschlag
Waldbrandgefahr war, zumindest im Winter, relativ gering.
Dabei gaukelte ihr dieser sonnige Tag einen nahenden Frühling vor. Vögel zwitscherten, die eigentlich viel weiter südlich ihr Winterquartier hätten nehmen sollen, es duftete nach Nadelhölzern und Erde. Und leider fühlten sich auch ein paar winzige Mücken animiert, sich in die wärmenden Strahlen der Sonne hinauszuwagen. Solange die kleinen Biester nicht über Juna herfielen, genoss sie jedoch ihren Tanz im Licht des Lebens.
Das letzte Stück hinab zum See legten Finn und sie im Wettlauf zurück. Der Hund zeigte sich dabei als Kavalier und verlängerte seine Strecke immer wieder durch Ausflüge nach rechts und links ins Unterholz. Dann rannte er wieder voran, blieb stehen und drehte sich um. Er wartete, bis sie herangekommen war, sprang an ihr hoch und galoppierte schließlich fröhlich bellend das letzte Stück zum See. Juna war es so warm geworden, dass sie es ihm am liebsten nachgemacht hätte, als er in den See stieg, bis die kleinen Wellen fast seinen Bauch berührten, und gierig trank.
Stattdessen setzte sie sich auf einen großen Stein, der von der Sonne sogar ein kleines bisschen warm geworden war. Das Fischerboot war verschwunden, und plötzlich wurde es
dunkler und kühl, obwohl keine Wolke am Himmel zu sehen war.
»Finn!« Juna pfiff nach ihm, da hörte sie hinter sich einen Zweig knacken und drehte sich blitzschnell um.
Keine drei Meter entfernt stand der gleiche Engel, der den armen Danny mit nicht mehr Anteilnahme getötet hatte, als hätte er ein lästiges Insekt erschlagen. Die Schwingen halb geöffnet, stand er aufrecht und breitbeinig da und betrachtete sie auf eine beunruhigende Weise, die Junas Herz fast erstarren ließ. Sie taumelte, fasste sich und sah ihm direkt … nicht in die Augen, das wagte sie nicht, aber doch auf einen Punkt zwischen seinen Brauen, von dem manche behaupteten, dahinter befinde sich das erleuchtete Auge des Herzens, mit dem ein jeder die Wahrheit sehen konnte. Aber die Wahrheit, das wusste Juna, war ein recht ungenauer Begriff, und für sie als Ärztin war dieses mystifizierte Organ nichts anderes als das Überbleibsel einer Drüse, die einst bei Wirbeltieren der Wahrnehmung von Helligkeit gedient hatte. Da sie auf keinen Fall den Blick vor diesem kaltherzigen Mörder senken wollte, sah sie dennoch genau dort hin.
Die Gerechten wollen alles auslöschen, was ihrer Meinung nach nicht in das vorherbestimmte Gefüge passt , warnte Arians Stimme in ihrem Kopf.
Und Junas Existenz störte gewaltig in einem Gefüge , in dem jeder seine Rolle zu spielen hatte, ohne sie zu hinterfragen.
Neben dem Engel erschien ein zweiter wie aus dem Nichts, und der Uniform nach zu urteilen, die er trug, war auch er ein Gerechter. Ihre Kleidung unterschied sich nur unwesentlich voneinander: Brustpanzer und Beinschienen,
wie Krieger der Antike, kombiniert mit einem eher schlichten Gewand der Neuzeit. Sie mochten die Farbe des Friedens tragen, doch das strahlende Weiß der Montur ließ sie nicht weniger bedrohlich erscheinen.
Juna wusste, dass sie keinerlei Chance gegen diese beiden Engel hatte, die älter waren als das Gedächtnis der Menschheit, geschaffen aus dem Nichts am Anfang der Zeit. Aber wenn sie schon sterben sollte, dann wollte sie wenigstens wissen, ob diese Jungs wirklich keine Gefühle besaßen, wie man es ihnen nachsagte. Und vielleicht gelang es ihr, sie so lange abzulenken, dass sich Finn in Sicherheit bringen konnte.
Juna stemmte die Hände in die Hüften und sagte: »Sieh mal an, gleich zwei der Selbstgerechten machen mir heute die Aufwartung!« Sie lachte höhnisch und war überrascht, wie gut ihr dies gelang. Jegliche Selbstzweifel hatte sie verdrängt. Wer dem Tode geweiht war, hatte nichts zu verlieren. »Hast du Sorge, es nicht allein mit mir aufnehmen zu können, dass du einen Kumpel mitgebracht hast? Oder tötet ihr lieber im Duo?«
Der zweite Engel zog ein Schwert, das so lang war, dass sich Juna wunderte, warum es nicht vorher zu sehen gewesen war. Sie tat gut daran, nicht zu vergessen, mit wem sie es zu tun hatte.
Dannys Mörder hob die Hand und gebot ihm Einhalt. »Lass sie plappern. Sie reden sich immer früher oder später um Kopf und Kragen.«
»Soll das heißen, ihr tötet nur, wenn euch jemand einen Grund gibt?«
»Wir reinigen die Welt von Ungeziefer, wie es unser Auftrag ist.«
Juna versuchte sich daran zu erinnern, was Arian ihr über die Gerechten erzählt hatte. Es war wenig genug
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