Flüsterherz
putzen. Und zwar
alles
, auch Sachen, die selten oder nie in Gebrauch waren, wie zum Beispiel das Fischbesteck, die Kerzenleuchter, die Vasen, Pas uralte Rassel und Mas Kinderbecher. Zu meiner Überraschung war das richtig nett und gemütlich. Denn Ma erzählte von früher, wie sie eine ganze Nacht von zu Hause weggeblieben und ein anderes Mal per Anhalter mit einem wildfremden Lkw-Fahrer bis Antwerpen gefahren war, weil sie reisen und etwas von der Welt sehen wollte. Als ich meinte, seitdem habe sie sich aber schwer verändert, wurde sie nicht mal böse. Sie lachte, so wie nur Ma das kann.
In meinem Postfach waren gut zehn Entschuldigungsmails von Tibby. Anscheinend funktionierte ihr PC wieder und ihr Gewissen ebenfalls.
Sehr gut.
Easy hatte mir zwei nette Mails geschrieben. Ich schrieb sofort zurück, das Rote Meer sei blau und voller bunter Fische. Und dass ich eine Überraschung für ihn hätte.
Die Rassel legte ich, hübsch verpackt, in meine Schreibtischschublade, bis sich eine gute Gelegenheit bot, sie Easy zu geben.
Als ich meine ägyptische Katze ins Regal stellte, blinkte und glitzerte ihr Ohrring, und ich glaubte zu hören, dass sie vor Behagen schnurrte.
Plötzlich musste ich an die Geschichte von Osiris denken, dem ägyptischen König, der von seinem eigenen Bruder lebendig in einen Sarg gesteckt und auf dem Nil ausgesetzt wurde. Seine Geliebte Isis war untröstlich und suchte zusammen mit seinem Sohn Anubis überall nach ihm.
»Anubis war ein Meister im Trösten«, hatte es in der Geschichte geheißen, und in diesem Moment war die hässliche Schachtel auf meinem Schreibtisch, in der Tibbys Anubis-Figur lag, von einem goldenen Glanz umgeben.
Ob sie sich wohl über mein Geschenk freute? Oder würde sie sich über die schmutzig graue Verpackung beschweren?
Sicherheitshalber nahm ich Anubis heraus. Er war so schön, dass ich ihn am liebsten selber behalten hätte.
Ich wickelte ihn in weißes Seidenpapier, wie eine Minimumie. Doch dann zögerte ich. Würde Tibby begreifen, dass das Päckchen eine Mumie darstellen sollte? Oder würde sie nur das knittrige weiße Papier sehen und glauben, ich wolle ihr irgendwelchen Plunder andrehen?
Ich suchte nach blauem Papier, in das ich die Mumie wickelte.
Jetzt war es ein echtes Tibby-Päckchen. Noch goldenes Geschenkband drum. Prima …
Oder wirkte es nun zu protzig?
Ich merkte, dass etwas gerissen war, trotz der Entschuldigungsmails. Etwas hatte sich unwiederbringlich verändert. Ich wusste einfach nicht mehr, wie ich Tibby eine Freude machen konnte. Und ich wusste auch nicht mehr, ob ich das überhaupt noch wollte.
4
Als die Schule wieder anfing, regnete es Bindfäden. So als wäre das frühe Aufstehen nicht schon schlimm genug. Ich musste ohne Regenhose los, denn die hatten sie ja im Krankenhaus zerschnitten. Klitschnass kam ich an, gerade noch rechtzeitig vor dem Klingeln.
In der ersten Stunde hatten wir Französisch. Weil Tibby noch nicht da war, setzte ich mich neben Eileen und gab ihr das ägyptische Armband. Sie legte es gleich um und bewunderte es von allen Seiten.
Ich erzählte von dem Straßenmarkt, auf dem ich es gekauft hatte, und Eileen fragte mich über die Pyramiden und den Nil aus.
Wir tuschelten, ganz wie immer, und es dauerte nicht lange, bis Frau Bonamour hochging.
»Zwei Wochen Ferien hattet ihr,
mesdames
, zwei lange Wochen zum Quasseln und Schwatzen. Jetzt bitte ich mir Ruhe aus,
compris
?«
In dem Moment kam Tibby herein.
Frau Bonamour schnauzte sie an und machte dann mit ihrem Unterricht weiter. Sie faselte etwas über
la viande
und
la boucherie
, und ihr Tonfall verriet, dass sie keine sonderlich angenehmen Ferien gehabt hatte.
Tibby setzte sich auf einen Platz am Fenster, schräg vor uns. Ihre Hose war durchweicht und von ihren Rastazöpfen triefte das Wasser.
Ich wollte die Bonamour mit ihrer Stinklaune nicht provozieren und versuchte es deshalb mit Zeichensprache. Aber Tibby reagierte nicht, auch nicht, als ich flüsterte. Also schrieb ich ihr einen Brief:
Du bist spät dran, ist alles okay?
Und darunter den gleichen Text noch mal in Hieroglyphen.
Tibby sah mich mit glasigem Blick an, zog die Brauen hoch und wischte sich mit dem Ärmel ein paar Wassertropfen von der Stirn. Dann drehte sie sich zum Fenster und starrte hinaus. Sie schrieb nichts von der Tafel ab, notierte sich keine Hausaufgaben und antwortete auch nicht auf meinen Brief. Was hatte sie bloß?
Ich schrieb auch für Eileen einen Brief mit
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