Flüsterherz
beim Laden merkte ich, dass ich am ganzen Körper vor Anspannung zitterte. Ich riss die Tür auf und hielt Sharima mein Handy vor die Nase. »Die SMS ist von Tibby! Sie müssen sich um sie kümmern! Und zwar schnell! Sonst passiert ein Unglück!«
War das wirklich meine Stimme? So hoch, schrill und vorwurfsvoll.
Easy legte mir die Hand auf die Schulter. »Beruhige dich, Anna.«
»In was für einem Ton redest du mit mir?«, sagte Sharima scharf. Dann las sie die SMS. »Ah, jetzt verstehe ich. Deshalb bist du so aufgeregt.«
Ich atmete tief durch, um mich wieder einzukriegen, aber es klappte nicht. »Logisch!«, erwiderte ich. »Wissen Sie eigentlich, dass Tibby schon ewig in der Schule fehlt? Und nie ans Telefon geht? Und dann krieg ich das hier!«
Easy fasste mich fest am Arm. »Schrei nicht so«, flüsterte er eindringlich.
Sharima strich mir über den Kopf. »Du bist eine gute, treue Freundin, Anna, aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Tibby ist eben temperamentvoll, und sie hat schlechte Laune, weil sie krank ist. Verständlich, oder?«
Ich nickte.
»Weißt du was, ich sorg dafür, dass sie heute Abend ein schönes Fußbad nimmt. Ich bring ihr ein paar von den feinen Badeölpröbchen mit und werd sie mal nach Strich und Faden verwöhnen. Mach dir keine Sorgen mehr, ja? Wir haben das schon im Griff. Und jetzt hab ich zu tun. Bye-bye.«
Ich wollte noch etwas sagen, aber Sharima hatte sich schon umgedreht.
Easy zog mich aus der Tür. »Was ist nur in dich gefahren, Tibbys Mutter so anzuschreien?«, sagte er. »Du hättest dich mal hören sollen.«
Ich hatte es gehört. »Tut mir leid, aber einen anderen Ton hatte ich gerade nicht auf Lager.«
Wir fuhren zurück. Bei der Kreuzung, an der es zu Easy nach Hause ging, hielt er an. »Bis morgen, Anna. Mach’s gut.«
»Bis morgen. Und danke, dass du mitgekommen bist. Das Ganze tut mir echt leid. Ich hab mich … ach, ich weiß auch nicht.«
»Schon gut. Ich hol dich morgen früh ab. Nicht vergessen, ja?«
»Nee, ist klar …«, sagte ich, obwohl ich im ersten Moment gar nicht wusste, wovon er redete. Hauptsache, er war mir nicht böse und hielt mich jetzt nicht für einen hysterischen Freak.
Zu Hause guckte ich alle paar Minuten auf mein Handy, weil ich fest damit rechnete, dass Easy oder Tibby mir noch mal simsten. Ich war nun mal eine hoffnungslose Optimistin.
Beim Abendessen löcherten mich alle mit Fragen. Was guckst du so missmutig, Anna? War was in der Schule? Oder hast du Liebeskummer? Was ist los? Was hast du?
Was ich hatte, war ein Eisklumpen in der Kehle. Ich brachte kein Wort heraus. Was hätte ich auch sagen sollen?
Ich legte mich früh ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Ich wollte nichts mehr von der Welt wissen. Sogar das Fest für das grottenhässliche Kunstwerk war mir egal. Am besten, ich blieb morgen zu Hause.
Wie ich so dalag und mich immer elender fühlte, dachte ich an Tibby. Ob es ihr jetzt genauso ging?
Ich nage an meinem Stift
.
Wenn ich damals nicht lockergelassen hätte, bei Sharima und Easy, wäre es dann nicht so weit gekommen? Schließlich spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Warum habe ich mir so leicht einreden lassen, es wäre alles in Ordnung? Ich hätte auf mein Gefühl hören sollen
.
Aber wenn ich ehrlich bin, sagte mein Gefühl damals nicht nur, dass etwas nicht stimmte. Es sagte auch: Lass mich in Ruhe mit deinen Lügen und deiner ewigen Jammerei. Ich hatte das Ganze satt und fand, Sharima müsse sich endlich um ihre Tochter kümmern
.
Noch ganz in Gedanken, lasse ich die leeren Seiten durch meine Finger gleiten
.
Plötzlich fällt mir das Gänseblümchenorakel ein. Ich nehme die Seiten zwischen Daumen und Zeigefinger und zähle sie nacheinander ab
.
Ich hätte etwas unternehmen müssen.
Ich konnte es nicht verhindern.
Das Wort »müssen« gefällt mir nicht. Ich fange noch mal von vorn an
.
Ich hätte es wissen können.
Ich konnte nichts tun.
Eine Seite nach der anderen:
Ich hätte es wissen können.
Ich konnte nichts tun.
...
Die letzte Seite reißt ein. Was heißt das? Gibt es kein Ja oder Nein, kein Richtig oder Falsch. Trifft vielleicht beides zu?
Ich hätte es wissen können, und im Grunde wusste ich es auch, und trotzdem konnte ich es nicht verhindern
.
Stäubchen im Weltall
Am Freitagmorgen weckte mich ein penetrantes Geräusch.
Es war mein Handy. Eine SMS!
Verschlafen guckte ich auf den Wecker. Halb sechs, grausam früh.
Die SMS war von
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