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Flüsterherz

Flüsterherz

Titel: Flüsterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Debora Zachariasse
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Easy.

    Schlagartig war ich hellwach. Ich hatte verschlafen! Easy stand schon unten, um mich zu unserer geheimen Kunstaktion abzuholen.
    Hastig schlüpfte ich in meine Kleider, nahm eine schnelle Katzenwäsche vor und stieg vorsichtig aus dem Fenster. Ich hielt mich am Regenrohr fest und ließ mich aufs Flachdach der Küche hinunter.
    Ich hätte ebenso gut durch die Haustür gehen können, denn unsere Treppe knarrte nicht. Leise runterzuschleichen, wäre wesentlich einfacher gewesen als die mühsame Kletterei. Doch als ich mich vom Dach hangelte und in Easys Arme fallen ließ, wurde mir klar: Jeder Weg hat seine Vorteile.
    Easy küsste mich. »Schlafmütze!«
    Ich kicherte.
    »Wir sind ganz schön plemplem, was?«, meinte er.
    »Und wie! Bist du mir noch böse?«
    »Ach was.« Er lächelte.
    Der Gartenschuppen war abgeschlossen. Ich wollte schon ins Haus, um den Schlüssel zu holen, da meinte Easy, ich solle bei ihm mitfahren. »Halt dich gut an mir fest«, flüsterte er mir ins Ohr.
    Schlingernd und lachend fuhren wir durch die stillen, dunklen Straßen, meine Arme um seine Mitte, meine Wange an seinem Rücken. Die Stille vor dem Sturm, dachte ich genüsslich. Heute Mittag würden alle staunen: An dem kostbaren Kunstwerk würde ein Strick baumeln, und jeder würde sehen, dass es eigentlich ein Galgen war.
    Plötzlich kam mir noch eine Idee.
    »Hast du zufällig einen Filzstift dabei?«, fragte ich.
    »Du etwa nicht? Das enttäuscht mich. Ich dachte, die kluge Frau baut vor.«
    »Ich hab doch dich.«
    »Oje, so steht’s also um die Emanzipation«, sagte Easy. »Einen Filzstift hab ich leider nicht. Aber ein Opinel.«
    »Ist das ein Stift?«
    »Nein, ein Taschenmesser. Nützt dir das was?«
    Ich zog ihn an den Haaren. Das Rad machte einen Schlenker. Wir lachten übermütig und fuhren weiter, dicht aneinandergeschmiegt, im fahlen Licht der Straßenlaternen.
    Zum Glück regnete es nicht, aber es war eiskalt. Ich fröstelte.
    Kurz vor der Schule waren ein paar Laternen defekt und auch der Hof war ziemlich dunkel.
    Am Tor lehnte ein altes rostiges Fahrrad. Das Schutzblech hing schief und abgeschlossen war es auch nicht. Der Wind hatte etwas dagegengeweht. Eine Mülltüte. Nein, ein Stück Stoff. Einen schmutzigen blauen Lappen.
    Easy hielt auf dem Gehweg an. »Ihre Kutsche ist angekommen, Madame. Lohn: ein Kuss.«
    Ich sprang vom Gepäckträger und küsste ihn. Nur einmal, aber lange und leidenschaftlich.
    Weil es auf dem Hof so düster war, merkte ich erst nicht, dass mit dem Kunstwerk etwas nicht stimmte. Easy ließ plötzlich sein Rad los. Es fiel gegen mein Schienbein. Ich wollte mich schon beschweren, da begann er zu rennen.
    Was war in ihn gefahren?
    Er lief auf die Skulptur zu, und dann begriff auch ich, was er längst gesehen hatte.
    Ich stand da wie gelähmt.
    An dem Kunstwerk hing etwas. Etwas Schlaffes. Etwas Großes. Ein Mensch!
    Ich hörte jemanden schreien. Schreien, schreien … Langsam, wie in Zeitlupe, sah ich, wie Easy sich auf das Kunstwerk zubewegte und etwas aus seiner Hosentasche nahm. Wie betäubtsah ich zu – wollte meinen Augen nicht trauen. Ich verstand nicht, was Easy da machte, bis er mit seinem Taschenmesser den Körper losschnitt.
    Eine schlaffe Gliederpuppe glitt in seine Arme, während irgendwo jemand schrie und schrie und schrie. Vorsichtig legte er den Körper auf den Boden.
    In dem Moment sah ich es. Der Schulhof begann sich vor mir zu drehen, alles drehte sich, mein ganzes Leben drehte sich. Das Schreien schwoll an, ein lang gezogener Jammerlaut, wie von einem Tier.
    Es war Tibby.
    »Anna!«
    Über das Schreien hinweg tönte es wie aus weiter Ferne, rau und heiser: »Anna!«
    Und immer noch das Schreien.
    »Verdammt! Halt den Mund, Anna! Ruf 112!«
    Anna? Das war ich! Das Schreien erstarb, und erst da wurde mir klar, dass ich es gewesen war, dass ich selbst die ganze Zeit geschrien hatte.
    Schlagartig war ich wieder in der Wirklichkeit.
    Mechanisch griff ich nach meinem Handy und tippte die 112 ein.
    »Notruf 112. Sie wünschen?«
    Ich rief in den Hörer: »Einen Krankenwagen! Schulhof Pallas-Athene-Gymnasium! Es eilt! Schnell!« Meine Stimme war kratzig vom Schreien.
    »Wo bitte?«
    Ich wiederholte die Adresse. »Beeilung, Mann! Trödelt nicht so rum!«
    Die Frau blieb gelassen und freundlich. »Ich verbinde Sie mit dem Rettungsdienst. Moment bitte.«
    Um mich drehte sich alles.
    Ich wurde durchgestellt.
    Eine ruhige Stimme erklang: »Rettungsdienst hier. Was ist passiert?«
    Ich

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