Flüstern in der Nacht
Leuten umgehen, geschweige denn in einer solchen Situation. Außerdem spürte sie, daß er sich erst auf Trost einstellen mußte, ehe sie riskieren durfte, Trost anzubieten. Darauf war er jetzt noch nicht eingestellt. »Ich komm' schon klar«, beharrte er. »Darf ich trotzdem reinkommen?« »Oh ... selbstverständlich. Entschuldigung.« Er bewohnte ein Junggesellenapartment mit einem Schlafzimmer; zumindest das Wohnzimmer schien groß und geräumig und bot eine Reihe großer Fenster an der Nord wand. »Gutes Licht für einen Maler«, meinte Hilary. »Deshalb hab ich die Wohnung gemietet.« Das Zimmer wirkte eher wie ein Studio denn ein Wohnzimmer. Ein Dutzend seiner anziehenden Gemälde zierten die Wände. Andere standen auf dem Boden, lehnten an den Wänden oder waren gestapelt, insgesamt etwa sechzig oder siebzig Stück. Auf zwei Staffeleien standen Arbeiten, mit denen er sich gerade beschäftigte. Und dann gab es da noch einen großen Zeichentisch, einen Hocker und einen Schrank mit Malutensilien. Die Regale waren mit überdimensionalen Kunstbüchern vollgestopft. Die einzige Konzession an das Wohnen verkörperten zwei kleine Sofas, zwei niedrige Tischchen mit Stehlampen und ein Kaffeetisch – alles in einer behaglichen Sitzecke angeordnet. Obwohl die Möblierung eigentümlich schien, so ging von dem Raum doch Wärme und Behaglichkeit aus.
»Ich habe beschlossen, mich zu betrinken«, erklärte Tony und zog die Tür hinter ihr ins Schloß. »Gründlich, sinnlos zu betrinken. Ich war gerade dabei, mir das erste Glas einzuschenken, als du geklingelt hast. Hättest du gern einen Schluck?« »Was trinkst du denn?« fragte sie. »Bourbon on the Rocks.« »Für mich auch, bitte.«
Während er in der Küche die Drinks machte, schaute sie sich seine Bilder näher an. Einige davon wirkten ultrarealistisch, mit derart feinen Details, die auf eine scharfe Beobachtungsgabe schließen ließen und jede Fotografie in den Schatten stellten. Einige der Bilder waren surrealistisch, aber in einem Stil, der nicht an Dali, Ernst, Miro oder Tanguy erinnerte. Man dachte eher an die Arbeiten René Magrittes, nur daß Magritte in seinen Gemälden die Einzelheiten nicht so betont hatte; aber gerade diese besonders realistische Eigenschaft an Tonys Blick machte seine surrealistischen Elemente besonders einmalig. Jetzt kam er mit zwei Gläsern aus der Küche zurück. Sie nahm ihm das ihre ab und meinte: »Deine Arbeiten sind sehr eindrucksvoll.« »Wirklich?«
»Michael hat recht. Du wirst deine Bilder ebenso schnell loswerden, wie du sie malst.«
»Es ist hübsch, das zu denken. Schön, davon zu träumen.« »Wenn du ihnen nur die Chance geben würdest –« »Ich sagte ja schon, du bist sehr freundlich, aber leider keine Expertin.«
Er wirkte ganz anders, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Stimme klang ausdruckslos, hölzern. Er war abgestumpft, ausgelaugt, deprimiert.
Sie versuchte ihn durch Hänselei aus seiner Reserve zu locken. »Du hältst dich für so schlau«, sagte sie. »Aber in Wirklichkeit bist du dumm. Wenn es um deine eigene Arbeit geht, bist du dumm. Du verschließt einfach deine Augen vor den Möglichkeiten, die sich dir bieten, und das macht dich blind.« »Ich bin nur ein Dilettant.« »Unsinn.«
»Ein ganz guter Dilettant.«
»Manchmal kannst du einen wirklich wild machen«, meinte sie. »Ich mag jetzt nicht über Kunst reden«, erwiderte er. Er schaltete seine Stereoanlage ein: Beethoven in der Interpretation von Ormandy. Dann ging er zu einem der Sofas auf der anderen Seite des Raumes.
Sie folgte ihm, setzte sich neben ihn. »Worüber willst du dann reden?«
»Über Kino«, sagte er. »Willst du das wirklich?« »Vielleicht über Bücher.« »Wirklich?« »Oder das Theater.«
»In Wirklichkeit willst du doch über das reden, was du heute erlebt hast.«
»Nein, darüber nicht.«
»Du mußt doch darüber reden, selbst wenn du nicht willst.« »Nein, ich muß das alles wirklich vergessen, aus meinem Bewußtsein auslöschen.«
»Das ist die Vogel-Strauß-Methode«, bemerkte sie. »Du meinst, du kannst einfach den Kopf in den Sand stecken, und dann sieht dich keiner.«
»Genau das«, erwiderte er.
»Als ich mich letzte Woche vor der ganzen Welt verstecken wollte, und du statt dessen darauf beharrtest, daß ich mit dir ausgehe, sagtest du, es sei nicht gesund, sich nach einem aufwühlenden Erlebnis in sich selbst zurückzuziehen. Du hast gesagt, es sei am besten, seine Gefühle mit anderen
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