Flüstern in der Nacht
über dem Pflaster. Gelächter von hohen Stimmen, das irgendwie musikalisch klang, hing in der leichten Morgenbrise; spielende Kinder, die an dem Swimmingpool in der Eigentumswohnanlage auf der anderen Straßenseite herumtollten.
An einem Tag wie diesem fiel es schwer, sich den Glauben an lebende Tote zu erhalten.
Hilary seufzte und meinte: »Wie stellen wir denn fest, ob er hier ist und uns beobachtet?« »Das kann man nicht mit Gewißheit feststellen.« »Ich befürchtete, daß du das sagen würdest.« Hilary schaute die Straße entlang, die mit Tupfen aus Licht und Schatten überzogen war. In Sonnenschein gehüllter Schrecken. Das Unfaßbare, das sich vor dem Hintergrund schöner Palmen und hell verputzter Wände und Dächern mit spanischen Ziegeln versteckte. »Paranoia Avenue«, meinte sie.
»Paranoia City, bis das vorüber ist.«
Sie machten kehrt und liefen über den asphaltierten Parkplatz zurück.
»Und was nun?« fragte sie. »Ich glaube, wir brauchen jetzt beide Schlaf.« Hilary war noch nie so müde gewesen. Ihre Augen schienen vom fehlenden Schlaf förmlich wund und schmerzten; die grelle Sonne tat weh. Ihr Mund fühlte sich pelzig an, und sie hatte einen Geschmack von Pappkartons; alle Knochen, Muskeln und Sehnen schmerzten, von den Zehenspitzen bis zum Kopf; daß ihr Zustand mindestens zur Hälfte von emotionaler und nicht etwa von physischer Erschöpfung herrührte, schien ihr überhaupt kein Trost zu sein.
»Ich weiß , daß wir Schlaf brauchen«, meinte sie. »Aber glaubst du im Ernst, daß du schlafen kannst?«
»Ich weiß, was du meinst. Ich bin scheußlich müde, aber meine Gedanken kommen einfach nicht zur Ruhe. Es wird nicht leicht sein, abzuschalten.«
»Da gibt es noch ein oder zwei Fragen, die ich dem Leichenbeschauer gern stellen würde«, meinte sie. »Oder demjenigen, der die Autopsie durchgeführt hat. Wenn ich darauf Antwort erhalte, werde ich vielleicht ein kleines Nickerchen machen können.«
»Okay«, meinte Tony. »Sperren wir die Wohnung ab und fahren zur Leichenschauhalle.«
Ein paar Minuten später in Tonys blauem Jeep schauten sie sich nach einem Verfolger um, aber da war niemand. Das bedeutete natürlich nicht, daß Frye nicht in einem der parkenden Fahrzeuge sitzen könnte, die entlang der von Bäumen gesäumten Straße standen. Wenn er ihnen vorher von Hilarys Haus aus gefolgt war, dann brauchte er jetzt nicht hinter ihnen herzufahren, denn er kannte ihr Ziel ja bereits. »Und wenn er einbricht, während wir weg sind?« fragte Hilary. »Was ist, wenn er sich in der Wohnung versteckt hält und wartet, bis wir zurückkommen?«
»Ich habe zwei Schlösser an meiner Tür«, entgegnete Tony. »Eines davon ist das beste Modell, das es derzeit überhaupt zu kaufen gibt. Er müßte die Tür zu Kleinholz zerhacken. Die andere Möglichkeit bestünde darin, eines der Balkonfenster einzuschlagen. In diesem Fall würden wir bereits vor dem Betreten der Wohnung merken, daß er auf uns wartet.« »Und wenn er doch eine andere Möglichkeit findet?« »Die gibt es nicht«, meinte Tony. »Um bei einem der anderen Fenster einsteigen zu können, müßte er an einer glatten Mauer in den ersten Stock klettern; jeder könnte ihn beobachten. Mach' dir keine Sorgen. Mein Haus ist wie eine Burg.« »Vielleicht kann er durch verschlossene Türen gehen – du weißt schon«, meinte sie mit einem Zittern in der Stimme, »wie ein Gespenst. Oder verwandelt sich in Rauch und dringt durchs Schlüsselloch.«
»An diesen Unsinn glaubst du doch wohl selbst nicht«, antwortete Tony.
Sie nickte. »Du hast recht.«
»Er besitzt keine übernatürlichen Kräfte. Er mußte letzte Nacht eine Fensterscheibe einschlagen, um in dein Haus zu gelangen.«
Sie fuhren durch dichten Verkehr Richtung Innenstadt. Die Müdigkeit, die ihr in den Knochen saß, hatte den geistigen Schutzwall unterminiert, der sie sonst vor jener schädlichen Krankheit des Selbstzweifels schützte, das machte sie auf eine für sie ganz untypische Weise verletzbar. Zum erstenmal, seit sie Frye aus ihrem Eßzimmer hatte laufen sehen, bezweifelte sie, ob sie tatsächlich das gesehen hatte, was sie glaubte.
»Bin ich verrückt?« fragte sie Tony.
Er schaute sie an und wandte den Blick dann wieder der Straße zu. »Nein. Du bist nicht verrückt. Du hast etwas gesehen. Du hast das Haus nicht selbst verwüstet. Du hast dir nicht nur eingebildet, daß der Eindringling wie Bruno Frye aussah. Ich gebe zu, daß ich das zuerst glaubte. Aber jetzt
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