Flüstern in der Nacht
draußen. Wie Hawthorne. Und schlimmer. Viel schlimmer. Viele dieser Leute agierten als politische Führer, jene Art von Betätigung, die Schakale oft für sich auswählten, um eine gewisse Macht über andere ausüben zu können; in ihren Händen lag das Steuer des ganzen Planeten, verrückte Ingenieure jeder Nation, die mit dem Grinsen des Besessenen die Maschine vor sich herstießen, bis sie schließlich aus den Gleisen sprang.
Leben wir wirklich in den letzten Tagen der Erde? fragte sich Joshua. Rückt das Armageddon näher? Mist, schimpfte er. Du überträgst einfach deine eigenen Vorahnungen der Sterblichkeit auf deine Weltwahrnehmung, alter Mann. Du hast Cora verloren, bist ganz allein, und plötzlich wird dir bewußt, daß du anfängst, alt zu werden, daß dir die Zeit davonläuft. Und jetzt entwickelst du die unglaublich egoistische Vorstellung, daß die ganze Welt mit dir zu Ende gehen wird, mit deinem Tod. Aber das einzige Jüngste Gericht, das näherrückt, ist ein sehr persönliches. Die Welt wird noch da sein, wenn du einmal nicht mehr bist. Noch lange wird sie existieren, versicherte er sich. Aber ganz glauben wollte er das nicht. Die Luft schien mit unheilverheißenden Strömungen geladen.
Jemand klopfte an die Tür, Karen Fall, seine tüchtige junge Sekretärin.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie noch hier sind«, meinte Joshua. Er sah auf die Uhr. »Sie hätten schon vor einer Stunde gehen können.«
»Ich gestattete mir heute eine längere Mittagspause. Außerdem habe ich noch einiges zu erledigen.« »Die Arbeit ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens, meine Liebe, aber Sie sollten nicht Ihre ganze Zeit damit verbringen. Gehen Sie nach Hause, Sie können das morgen wieder hereinbringen.«
»Ich bin in zehn Minuten fertig«, meinte sie. »Außerdem sind gerade zwei Leute gekommen, die Sie sprechen möchten.« »Ich habe aber keine Verabredung mehr.« »Sie sind extra aus Los Angeles angereist. Anthony Clemenza, und die Frau, die bei ihm ist, heißt Hilary Thomas ... die Frau, die –«
»Ich weiß, wer das ist«, meinte Joshua verblüfft. »Bitten Sie sie herein, schnell.«
Er trat hinter seinem Schreibtisch hervor und empfing die beiden Besucher mitten im Zimmer. Als sie sich vorstellten, schien das fast peinlich zu wirken; aber dann bot Joshua ihnen bequeme Plätze an, schenkte ihnen zwei Jack Daniel's ein und zog sich einen Sessel vor die Couch, auf der die beiden nebeneinander Platz genommen hatten.
Tony Clemenzas Art wirkte auf Joshua irgendwie sympathisch. Er erschien auf angenehme Weise selbstbewußt und kompetent.
Und Hilary Thomas strahlte das gleiche Selbstvertrauen und ebensoviel lautlose Kompetenz aus wie Clemenza. Darüber hinaus war sie eine reizende junge Frau, so reizend, daß es schon schmerzte.
Einen Augenblick lang schien keiner den Anfang machen zu wollen. Sie schauten einander in stummer Erwartung an und nippten alle an ihrem Whiskey.
Joshua ergriff als erster das Wort. »Ich habe nie viel von Hellseherei und solchen Dingen gehalten, aber im Augenblick besitze ich weiß Gott so etwas wie eine Vorahnung. Sie haben die weite Reise doch nicht unternommen, um mir etwas über den letzten Mittwoch und Donnerstag zu erzählen, oder? In der Zwischenzeit muß also noch etwas geschehen sein.«
»Eine ganze Menge ist passiert«, erwiderte Tony. »Aber sehr viel Sinn ergibt nichts von alledem.«
»Sheriff Laurenski hat uns hierhergeschickt«, erklärte Hilary. »Wir hoffen, daß Sie einige unserer Fragen beantworten können.«
»Ich bin selbst auf der Suche nach Antworten«, entgegnete Joshua.
Hilary legte den Kopf etwas zur Seite und sah Joshua mit einem eigentümlichen Blick an. »Ich glaube, ich habe selbst auch eine kleine Vorahnung«, meinte sie. »Hier ist auch etwas geschehen, oder nicht?«
Joshua nahm einen Schluck von seinem Whiskey. »Wenn ich abergläubisch wäre, dann würde ich Ihnen jetzt wahrscheinlich erklären, daß ... irgendwo dort draußen ... ein Toter unter den Lebenden herumgeht.«
Draußen verlosch das letzte Tageslicht. Die kohlschwarze Nacht ergriff Besitz vom Tal draußen vor den Fenstern. Ein kalter Wind suchte sich seinen Weg an den vielen Glasscheiben vorbei; er zischte und stöhnte. Aber gleichzeitig schien eine neue Art von Wärme Joshuas Büro zu erfüllen, denn das Wissen über das unglaubliche Mysterium der offenkundigen Wiedererweckung Bruno Fryes, das er mit Tony und Hilary teilte, brachte sie einander näher.
Bruno Frye
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