Flüstern in der Nacht
weilte, hat sie es nicht geschafft, seine Macht abzuschütteln. Sie erzählte niemandem von den Scheußlichkeiten, zu denen er sie zwang. Er hat sie wirklich völlig zerbrochen, das sage ich Ihnen. Versklavt. Das ist der richtige Ausdruck. Sie war seine Sklavin, aber nicht wie irgendein Arbeiter auf der Plantage, sondern geistig und emotional. Nach seiner Rückkehr aus Europa zwang er sie, das College aufzugeben. Er holte sie nach St. Helena zurück, und sie hat sich ihm nicht widersetzt. Sie konnte sich nicht widersetzen. Sie wußte gar nicht, wie man das anstellen sollte.« Die Uhr auf dem Kaminsims schlug die volle Stunde. Zwei gemessene Töne. Sie hallten weich von der Decke des Salons wider. Joshua saß vorn auf der Sesselkante. Jetzt rutschte er langsam nach hinten, bis sein Kopf die Rückenlehne und das dort angebrachte Deckchen berührte. Er war bleich und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sein weißes Haar wirkte plötzlich strähnig, und Hilary bekam das Gefühl, als sei er um Jahre gealtert. Sie wußte, wie ihm zumute war. Die Geschichte der Familie Frye bot ein grausames Beispiel dafür, wie unmenschlich Menschen mit Menschen umgehen konnten. Je mehr sie in den schauerlichen Ereignissen herumstocherten, desto deprimierter wurden sie. Man konnte hier nicht mehr nur kühler Beobachter bleiben. So, als führe er ein Selbstgespräch, nur um sich die nötige Klarheit zu verschaffen, meinte Joshua: »Sie gingen also nach St. Helena zurück und setzten ihre krankhafte Beziehung fort; und schließlich machten sie einen Fehler; sie wurde schwanger – und niemand dort oben in St. Helena war je argwöhnisch geworden.« »Unglaublich!« erklärte Tony. »Gewöhnlich kommt man mit einer einfachen Lüge am weitesten, weil man sich nicht in ihr verheddern kann. Aber diese Geschichte mit Mary Günther schien so verdammt kompliziert wie die Nummer eines Jongleurs. Sie mußten doch die ganze Zeit ein Dutzend Bälle in der Luft halten. Doch sie schafften es ohne Panne.«
»Oh, das kann man nicht behaupten«, wandte Mrs. Yancy ein. »Ein paar Pannen hat es schon gegeben.« »Was denn?«
»Nun – an dem Tag, an dem sie St. Helena verließ, um bei mir ihr Baby zur Welt zu bringen, erzählte sie den Leuten dort, diese imaginäre Mary Günther hätte ihr mitgeteilt, das Baby sei zur Welt gekommen. Das war natürlich dumm. Katherine sagte, sie würde nach San Franzisko fahren, um das Kind abzuholen. Sie sagte ihnen, Mary hätte ihr von einem reizenden Baby geschrieben, sagte aber nichts von einem Jungen oder Mädchen. Damit versuchte sie sich auf klägliche Art zu schützen, da sie ja schließlich vor der Geburt nicht wissen konnte, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen würde. Dumm. Sie hätte es wirklich besser wissen müssen. Das war der einzige Fehler, den sie machte – daß sie behauptete, das Kind sei schon zur Welt gekommen, als sie St. Helena verließ. Ah, ich weiß wohl, daß sie nervlich ein völliges Wrack darstellte. Ich weiß, daß sie nicht mehr klar denken konnte. Schließlich konnte sie ja auch nach all den Qualen mit Leo keine ausgeglichene junge Frau sein. Und dann die Schwangerschaft, und die ganze Zeit der Versuch, die Schwangerschaft zu verstecken. Und schließlich Leos Tod zu einer Zeit, in der sie ihn am meisten brauchte – das mußte sie fast zum Wahnsinn treiben. Sie schien völlig von Sinnen, hat das Ganze nicht gründlich genug zu Ende gedacht.«
»Ich verstehe nicht«, meinte Joshua.
»Warum war es ein Fehler, zu sagen, Marys Baby sei bereits zur Welt gekommen? Worin besteht die Panne?« Mrs. Yancy streichelte weiterhin die Katze und fuhr fort: »Sie hätte den Leuten in St. Helena sagen müssen, die Geburt des Babys stünde unmittelbar bevor, und sie würde nach San Franzisko reisen, um Mary beizustehen. Auf die Weise wäre sie nicht auf ein Baby festgelegt gewesen. Aber daran hat sie nicht gedacht. Sie wußte nicht, was geschehen würde. Sie hat jedem erzählt, es sei ein Baby auf die Welt gekommen. Und dann kam sie zu mir und hat Zwillinge auf die Welt gebracht.« »Zwillinge?« wiederholte Hilary. »Verdammt!« entfuhr es Tony. Die Überraschung ließ Joshua aufspringen. Die weiße Katze fühlte die Spannung, die in der Luft lag. Sie hob den Kopf und schaute die Leute im Salon neugierig an, einen nach dem anderen. Ihre gelben Augen schienen von innen heraus zu leuchten.
Das Dachzimmer war groß, aber nicht annähernd groß genug, um bei Bruno nicht das Gefühl zu erzeugen,
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