Flüstern in der Nacht
ein.
Im Wegfahren fragte Frank: »Was war das denn?« »Ich hab' mich verabredet«, sagte Tony. »Mit ihr?«
»Nun, jedenfalls nicht mit ihrer Schwester.« »Glückspilz.« »Glückskröte.« »Hm?«
»Verstehst du nicht.«
Ein paar Straßen später meinte Frank: »Jetzt ist es nach vier. Bis wir diese Kiste zurückgebracht und uns abgemeldet haben, wird es fünf sein.«
»Willst du ausnahmsweise mal pünktlich Schluß machen?« fragte Tony.
»Bezüglich Valdez können wir vor morgen ohnehin nicht viel unternehmen.«
»Stimmt«, gab Tony zu. »Laß uns einmal leichtsinnig sein.« Nach einigen weiteren Straßen fragte Frank: »Trinken wir zusammen noch einen Schluck nach Dienstschluß?« Tony sah ihn verblüfft an. Das war das erste Mal nach drei Monaten Zusammenarbeit, daß Frank vorschlug, sich nach Dienstschluß noch zusammenzusetzen. »Nur ein oder zwei Gläser«, meinte Frank, »wenn du nicht etwas Besseres vorhast ...« »Nein. Ich bin frei.« »Kennst du eine Bar?«
»Ja, sogar eine, die sehr gut paßt. Sie nennt sich The Bolt Hole.«
»Die liegt aber nicht in der Nähe des Reviers, oder? Keine Bude, in der es jede Menge Polizisten gibt?« »Soweit mir bekannt ist, bin ich der einzige Polizeibeamte, der dort verkehrt. Sie liegt am Santa Monica Boulevard, in der Nähe von Century City. Ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt.«
»Klingt gut«, meinte Frank. »Wir treffen uns dort.« Den Rest der Strecke zur Polizeigarage legten sie schweigend zurück – ein etwas geselligeres Schweigen als ihr übliches Arbeitsschweigen – dennoch Schweigen. Was will er? überlegte Tony. Warum geht er endlich aus seiner Reserve heraus?
Um 16.30 Uhr ordnete der amtliche Leichenbeschauer von Los Angeles eine Teilobduktion von Bruno Günther Frye an. Falls möglich, sollte die Leiche nur im Bereich der Bauchwunden geöffnet werden, um festzustellen, ob diese beiden Stiche die einzige Todesursache waren.
Der Leichenbeschauer würde die Autopsie nicht selbst vornehmen, weil er um 17.30 Uhr das Flugzeug nach San Franzisko bestieg, um dort einen Vortrag zu halten; deshalb wurde der Auftrag einem für ihn tätigen Pathologen übergeben. Der Tote wartete in einem kalten Raum mit anderen Toten auf einem kalten Karren reglos unter einem weißen Leichentuch.
Hilary Thomas war erschöpft. Sämtliche Knochen schmerzten, und jedes Gelenk schien entzündet. Jeder Muskel fühlte sich an, als habe man ihn durch einen Mixer gedreht und dann wieder zusammengesetzt. Emotionale Belastung konnte dieselben physiologischen Wirkungen zeigen wie harte körperliche Arbeit.
Außerdem war sie nervös und zerfahren und viel zu angespannt, um sich mit ein paar Stunden Schlaf erfrischen zu können. Jedesmal, wenn das große Haus ein ganz normales Geräusch erzeugte, fragte sie sich, ob das nicht etwa eine Diele sein könnte, die unter dem Gewicht eines Eindringlings knarrte. Und wenn der leise seufzende Wind ein Palmblatt oder einen Pinienzweig gegen ein Fenster wischte, dann stellte sie sich vor, jemand wäre gerade dabei, verstohlen das Glas aufzuschneiden oder ein Fensterschloß aufzustemmen. Herrschte dann über lange Perioden hinweg völlige Stille, so fühlte sie etwas Unheimliches in dem Schweigen. Ihre Nerven wirkten abgewetzter als die Kniepartien an den Hosen eines Büßers. Das beste Mittel gegen solch eine Nervenbelastung war ein gutes Buch. Sie durchstöberte die Regale in ihrem Arbeitszimmer und wählte den neuesten Roman von James Clavell aus, eine breit angelegte Geschichte, die im Orient spielte. Sie schenkte sich ein Glas Dry Sack ein, kuschelte sich in ihren braunen Polstersessel und fing zu lesen an. Zwanzig Minuten später – sie fing gerade an, sich in Clavells Roman zu vertiefen – klingelte das Telefon. Sie ging an den Apparat und meldete sich. »Hallo?« Keine Antwort. »Hallo?«
Der Anrufer lauschte ein paar Sekunden und legte dann auf. Hilary legte den Hörer auf, starrte ihn einen Augenblick lang nachdenklich an. Falsch verbunden? Wahrscheinlich.
Aber warum hatte er nichts gesagt?
Manche Leute haben einfach keine Manieren, sagte sie sich. Ungebildet.
Aber was, wenn der Anrufer sich nicht verwählt hatte? Was, wenn es ... jemand anderer war? Hör' auf, in jedem Winkel Gespenster zu sehen, sagte sie sich ärgerlich. Frye ist tot. Das war schlimm, aber jetzt ist es aus und vorbei. Du verdienst nun Ruhe. Ein paar Tage, damit deine Nerven sich wieder beruhigen können. Du mußt
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