Flug 2039
Gräten. Karotten, mundgerecht geschnitten. Geschmorte Endivien.
»Was ist das denn?«
Zerkochte Blätter, sage ich. Die essen Sie mit der kleinen Gabel, die ganz links außen liegt. Zinken nach unten. Geschmorte Endivien kennen Sie bereits. Ich weiß, dass Sie geschmorte Endivien kennen. Die haben Sie voriges Jahr auf einer Weihnachtsparty gegessen. Die haben Ihnen sehr gut geschmeckt. Nehmen Sie nur drei Bissen, sage ich in das Freisprechtelefon. Ich verspreche Ihnen, Sie werden begeistert sein.
Der Lautsprecher fragt: »Könnten Sie die Flecken von der Kaminumrandung entfernen?«
Meinem Terminkalender zufolge steht diese Arbeit erst morgen an.
»Oh«, sagt der Lautsprecher. »Das haben wir vergessen.«
Ja. Klar. Das habt ihr vergessen.
Drecksbande.
Man könnte mich den perfekten Diener nennen, aber das wäre völlig daneben.
»Sonst noch was, was wir wissen sollten?«
Heute ist Muttertag.
»O Scheiße. Mist, verfluchter!«, sagt der Lautsprecher. »Haben Sie was geschickt? Oder müssen wir das erledigen?«
Selbstverständlich. Ich habe ihren Müttern jeweils einen schönen Blumenstrauß geschickt, und der Florist bucht den Betrag von ihrem Konto ab.
»Was haben Sie auf die Karte geschrieben?«
Ich habe geschrieben:
Meiner innig geliebten Mutter an die ich immer in Liebe denke. Dein liebender Sohn/Deine liebende Tochter hat nie eine Mutter gehabt, die ihn/sie mehr geliebt hat. In tiefster Liebe. Und dann die jeweilige Unterschrift.
Und als PS: Eine Trockenblume ist so reizend wie eine frische.
»Klingt gut. Das müsste die mal wieder für ein Jahr ruhig stellen«, sagt der Lautsprecher. »Denken Sie daran, alle Blumen auf der Sonnenveranda zu gießen. Das steht im Terminkalender.«
Dann legen sie auf. Die brauchen mich eigentlich nie an irgendetwas zu erinnern. Müssen einfach nur immer das letzte Wort behalten.
Juckt mich aber nicht.
Die Sozialarbeiterin wedelt sich mit den frisch lackierten Fingernägeln vor dem Mund herum und bläst sie trocken. Zwischendurch fragt sie: »Ihre Familie?«
Bläst wieder auf die Nägel.
»Ihre Mutter?«, fragt sie.
Bläst auf die Nägel.
»Denken Sie noch an Ihre Mutter?«
Bläst auf die Nägel.
»Glauben Sie, sie hat etwas gespürt?«
Bläst auf die Nägel.
»Das heißt, als sie sich getötet hat?«
Matthäus, Kapitel vierundzwanzig, Vers dreizehn:
»Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig.«
Meinem Terminkalender zufolge müsste ich noch den Filter der Klimaanlage reinigen. Im grünen Wohnzimmer Staub wischen. Die Messingtürknäufe polieren. Die alten Zeitungen zum Papiercontainer bringen.
Die Stunde ist fast abgelaufen, und wieder bin ich nicht dazu gekommen, über Fertility Hollis zu reden. Wie wir uns in dem Mausoleum kennen gelernt haben. Eine Stunde lang gingen wir dort herum, und sie erzählte mir von den verschiedenen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts und wie die jeweils den gekreuzigten Jesus abgebildet hätten. Im ältesten Flügel des Mausoleums, dem Zufriedenheits-Flügel, ist Jesus ausgemergelt und romantisch, da hat er große feuchte Frauenaugen mit langen Wimpern. In dem nach 1930 erbauten Flügel ist Jesus ein sozialistischer Realist mit den gewaltigen Muskeln eines Superhelden. In den vierziger Jahren, im Heiterkeits-Flügel, wird Jesus zu einer abstrakten Montage aus Flächen und Würfeln. In den fünfziger Jahren ist Jesus poliertes Obstbaumholz, ein Skelett der dänischen Moderne. In den Sechzigern ist Jesus aus Treibholz zusammengenagelt.
Die Siebziger haben keinen eigenen Flügel, und in dem der Achtzigerjahre gibt es keinen Jesus, nur profane Oberflächen aus glänzendem Messing und grünem Marmor wie in einem Warenhaus.
Wir streiften durch Zufriedenheit, Heiterkeit, Friede, Freude, Erlösung, Verzückung und Verzauberung, und Fertility erzählte mir von Kunst.
Sie sagte, ihr Name sei Fertility Hollis.
Ich sagte, ich sei Tender Branson. Das entspricht so ziemlich dem, was man meinen richtigen Namen nennen könnte.
Von jetzt an wird sie die Grabnische ihres Bruders jede Woche besuchen. Nächsten Mittwoch ist sie wieder da, hat sie mir versprochen.
»Das ist jetzt zehn Jahre her«, sagt die Sozialarbeiterin. »Möchten Sie nicht endlich einmal von Ihren Gefühlen gegenüber Ihrer toten Familie sprechen?«
Tut mir Leid, sage ich, aber ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit. Ich sage ihr, unsere Stunde sei vorbei.
Kapitel 41
Bevor es zu spät ist, bevor wir meinem Flugzeugabsturz zu nahe kommen, muss ich
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