Flug 2039
gekommen.
Ebenso gut könnte man sich wünschen, man hätte größere, schlankere, stärkere, glücklichere Eltern gehabt. In der Vergangenheit gibt es nun einmal Dinge, über die man keine Macht hat.
Tatsache ist jedenfalls: Adam war der Erstgeborene. Und vielleicht hat Adam mich beneidet, weil ich in die Welt da draußen geschickt wurde. Während ich mich auf die Reise machte, wurde Adam mit einer Biddy Gleason verheiratet, die er kaum kannte.
Die Kirchenältesten führten komplizierte Tabellen, in denen verzeichnet wurde, wer welche Biddy aus welcher Familie heiratete, um zu verhindern, dass Leute heirateten, die in der Außenwelt Vettern und Kusinen genannt werden. Sobald die Adams einer Generation siebzehn wurden, traten die Kirchenältesten zusammen und wiesen ihnen Frauen zu, die verwandtschaftlich so weit wie möglich von ihrer jeweiligen Familie entfernt waren. Für jede Generation gab es eine Zeit des Heiratens. In der Kirchenkolonie lebten fast vierzig Familien, und jede Generation fast jeder Familie richtete dann zu Hause Hochzeiten und Feiern aus. Die Tenders und Biddys waren bei diesen Hochzeiten nur Zuschauer am Rande.
Als Biddy konnte man nur davon träumen, so etwas einmal selbst zu erleben.
War man ein Tender, träumte man von gar nichts.
Kapitel 40
Heute Abend kommen die Anrufe wie jeden Abend.
Wir haben Vollmond. Menschen wollen sterben: wegen schlechter Noten in der Schule. Wegen Streitigkeiten in der Familie. Wegen Problemen mit Freunden. Wegen ihrer schäbigen kleinen Jobs. Und ich versuche unterdessen, aus zwei gemopsten Kalbsschnitzeln Schmetterlingsschnitzel zu machen.
Leute rufen von weither an, und die Vermittlung fragt, ob ich die Gebühren für ein R-Gespräch, für den Hilferuf irgendeines Menschen übernehmen möchte.
Heute Abend teste ich eine neue Methode, Lachs en croûte zu essen, eine sexy Drehung des Handgelenks, ein kleiner Schwenker für meine Arbeitgeber, mit dem sie auf der nächsten Dinnerparty die anderen Gäste beeindrucken können. Ein Salonkunststückchen. Bei Gesellschaftstänzen gibt es schließlich auch eine Etikette. Ich erfinde einen kleinen imponierenden Trick, mit dem man sich Sahnezwiebeln in den Mund befördern kann. Ich entwickle gerade eine narrensichere Technik, mit der man möglichst viel Salbeisahne vom Teller wischen kann, als wieder einmal das Telefon klingelt.
Ein Junge ruft an und sagt, dass er in Algebra II durchfällt.
Nur um nicht aus der Übung zu kommen, sage ich: Bring dich um.
Eine Frau ruft an und sagt, dass ihre Kinder sich nicht benehmen können.
Ich rate ihr, ohne zu zögern: Bring dich um.
Ein Mann ruft an und sagt, dass sein Auto nicht anspringt.
Bring dich um.
Eine Frau ruft an und fragt, um wie viel Uhr der Spätfilm anfängt.
Bring dich um.
»Ist dort nicht die 555-1327?«, fragt sie. »Ich spreche doch mit dem Moorehouse-Kinozentrum?«
Ich sage: Bring dich um. Bring dich um. Bring dich um.
Ein Mädchen ruft an und fragt: »Tut es sehr weh, wenn man stirbt?«
Ja, Schätzchen, sage ich, ja, aber das Leben tut noch sehr viel mehr weh.
»War nur so eine Frage«, sagt sie. »Vorige Woche hat sich mein Bruder umgebracht.«
Das muss Fertility Hollis sein. Ich frage sie, wie alt ihr Bruder war. Ich verstelle meine Stimme, spreche tiefer und hoffe dabei, dass sie mich nicht erkennt.
»Vierundzwanzig«, sagt sie. Kein Schluchzen, gar nichts. Hört sich nicht einmal besonders traurig an.
Ihre Stimme erinnert mich an ihren Mund erinnert mich an ihren Atem erinnert mich an ihre Brüste.
Erster Brief an die Korinther, Kapitel sechs, Vers achtzehn:
»Fliehet der Hurerei! … wer aber hurt, der sündigt an seinem eigenen Leibe.«
Mit meiner veränderten, tieferen Stimme frage ich sie, was sie denkt.
»Der Zeitpunkt wäre günstig«, sagt sie. »Aber ich weiß nicht so recht. Das Frühjahrssemester ist fast vorbei, und ich hasse meinen Job. Bald läuft der Mietvertrag für meine Wohnung ab. Nächste Woche muss ich die Zulassung für mein Auto erneuern. Falls ich mich jemals umbringen will, wäre jetzt jedenfalls genau der richtige Zeitpunkt.«
Es gibt eine Menge gute Gründe, am Leben zu bleiben, sage ich und hoffe, dass sie mich nicht bittet, ihr die alle aufzuzählen. Ich frage, ob sie jemanden hat, mit dem sie die Trauer um ihren Bruder teilen kann. Gibt es nicht vielleicht einen guten Freund ihres Bruders, der ihr helfen könnte, mit dem Schmerz fertig zu werden?
»Nicht direkt.«
Ich frage, ob denn sonst niemand am
Weitere Kostenlose Bücher