Flug 2039
gute alte Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen vor und suchen eine neue Geisteskrankheit für mich heraus. Kommen Sie schon. Um der alten Zeiten willen. Holen Sie das Buch.
Die Sozialarbeiterin seufzt und betrachtet das Spiegelbild meines tränenüberströmten Gesichts in der Pfütze schmutzigen Putzwassers auf dem Fußboden. »Hören Sie zu«, sagt sie, »ich habe zu tun; das ist echt Arbeit hier. Außerdem ist das Buch verschwunden. Habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen.«
Sie schrubbt weiter und sagt: »Nicht dass es mir fehlen würde.«
Okay, die zehn Jahre waren ziemlich hart. Fast alle ihre Klienten sind tot. Sie ist gestresst. Ausgebrannt. Nein, verbrannt. Eingeäschert. Sie hält sich für eine Niete.
Ihr Leiden nennt man Gelernte Hilflosigkeit.
»Außerdem«, sagt sie und schrubbt heftig die letzten Stellen, an denen das Vinyl noch unversehrt ist, »kann ich Ihnen nicht ewig das Händchen halten. Wenn Sie sich umbringen wollen, kann ich Sie nicht daran hindern, es wäre also nicht meine Schuld. Meinen Aufzeichnungen nach sind Sie vollkommen glücklich und angepasst. Uns liegen Testergebnisse vor, die das empirisch beweisen.«
Die Dämpfe hier in der Küche zwingen mich, die Tränen hochzuschniefen.
»Sie können sich umbringen oder es auch sein lassen«, sagt sie, »aber hören Sie auf, mich zu quälen. Ich versuche mit meinem Leben voranzukommen.«
»Jeden Tag bringen sich in Amerika Menschen um«, sagt sie. »Das Problem wird nicht dadurch größer, nur weil Sie die meisten von denen kennen.«
»Finden Sie nicht, es ist langsam an der Zeit«, sagt sie, »dass Sie lernen, Ihr Fleisch selbst zu schneiden?«
Kapitel 34
Es hieß, man müsse einen Frosch mit der bloßen Hand totquetschen. Man müsse lebende Regenwürmer essen. Um zu beweisen, dass man so gut gehorchen konnte wie Abraham, als dieser, um Gott glücklich zu machen, seinen Sohn töten wollte, müsse man sich mit einer Axt den kleinen Finger abhacken.
So ging das Gerücht.
Danach müsse man jemand anderem den kleinen Finger abhacken.
Da man von denen, die getauft wurden, keinen mehr zu Gesicht bekam, konnte man nicht wissen, ob die ihren kleinen Finger noch hatten. Man konnte sie auch nicht fragen, ob sie den Frosch hatten zerquetschen müssen.
Unmittelbar nach der Taufe stieg man auf einen Lastwagen und verließ die Kolonie. Man durfte die Kolonie nie mehr wieder sehen. Der Lastwagen fuhr in die böse Außenwelt hinaus, und da draußen hatte man schon den ersten Arbeitsplatz sicher; das wurde alles organisiert. Die große Außenwelt mit allen ihren wunderbaren neuen Sünden; je besser man bei den Prüfungen abschnitt, desto bessere Jobs bekam man zugewiesen.
Wie manche der Prüfungen aussahen, konnte man schon vorher rauskriegen.
Die Kirchenältesten sagten einem frei heraus, ob man für seine Körpergröße zu dünn oder zu dick war. Sie stellten einem das ganze Jahr vor der Taufe zur Verfügung, damit man sich vervollkommnen konnte. Die Hausarbeit wurde einem erlassen, damit man den ganzen Tag am Spezialunterricht teilnehmen konnte. Bibelunterricht. Putzunterricht. Etikette, Stoffpflege und so weiter, ihr wisst schon. Wenn man dick war, aß man, um abzunehmen, und wenn man zu dünn war, aß man einfach so.
Das ganze Jahr vor der Taufe über hatte jeder Baum, jeder Freund, hatte alles, was man sah, den Glorienschein der Gewissheit, dass man es nie mehr wiedersehen würde.
Aus dem Lernstoff konnte man so ziemlich schließen, was einen in den Prüfungen erwartete.
Zudem ging auch das Gerücht, es würde noch anderes passieren, etwas, von dem wir nichts wüssten.
Gerüchteweise wussten wir, dass man sich zur Taufe splitternackt ausziehen musste. Ein Kirchenältester würde Hand an einen legen und verlangen, dass man husten solle. Ein anderer Ältester würde einem einen Finger in den Anus stecken.
Ein dritter Kirchenältester würde einen die ganze Zeit begleiten und auf einem Zettel notieren, wie man sich aufführt.
Unklar war, wie man sich auf eine Prostata-Untersuchung vorbereiten sollte.
Wir wussten, dass die Taufe im Keller des Versammlungshauses stattfinden sollte. Die Töchter wurden im Frühling getauft, wobei nur die Kirchenfrauen anwesend sein durften. Die Söhne waren im Herbst dran, und da waren nur die Männer dabei; sie sagten einem, man solle sich nackt auf die Waage stellen, um sich wiegen zu lassen, oder verlangten, dass man Verse aus der Bibel zitierte.
Hiob, Kapitel vierzehn, Vers
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