Flug 2039
zukünftigen Wunderprodukten, Medikamenten und Autos und schiebt sie ebenfalls in die Aktentasche. Er windet mir die Pillenflaschen aus den Händen, die jetzt alle leer und still sind.
»Um die Wahrheit zu sagen«, sagt er, »es gibt nie etwas, was neu ist.«
Er sagt: »Alles schon mal dagewesen.«
Er sagt: »Passen Sie auf.«
Im Jahre 1653, sagt er, hat die russisch-orthodoxe Kirche ein paar alte Rituale verändert. Nur einige wenige Änderungen in der Liturgie. Nur Worte. Sprache. Im Russischen, um Gottes willen. Ein gewisser Patriarch Nikon habe nicht nur diese Änderungen eingeführt, sondern auch einige westliche Gebräuche, die im russischen Hofleben jener Zeit bereits populär zu werden begannen; und wer sich gegen diese Änderungen auflehnte, wurde exkommuniziert.
Er tastet im Dunkel zu meinen Füßen herum und hebt die restlichen Pillenflaschen auf.
Dem Agenten zufolge flohen die Mönche, die keine Änderung am Ablauf ihres Gottesdienstes akzeptieren wollten, in abgelegene Klöster. Die russischen Behörden jagten und verfolgten sie. 1665 schritten erste kleine Gruppen von Mönchen zur Selbstverbrennung. Diese Gruppenselbstmorde grassierten in Nordeuropa und Westsibirien bis ungefähr 1680. Im Jahre 1687 besetzten zweitausendsiebenhundert Mönche ein Kloster, schlossen sich darin ein und brannten es nieder. 1688 verbrannten sich weitere fünfzehnhundert »Altgläubige« in ihrem Kloster bei lebendigem Leib. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich schätzungsweise zwanzigtausend Mönche lieber umgebracht als sich der Regierung unterworfen.
Er schließt die Aktentasche und beugt sich vor.
»Die Selbstmordwelle der russischen Mönche hat erst 1897 aufgehört«, sagt er. »Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Denken Sie an Samson im Alten Testament, sagt der Agent. An die jüdischen Soldaten, die sich in Masada umgebracht haben. Denken Sie an das Harakiri der Japaner. Die Sati der Hindus. Die Endura der Katharer im 12. Jahrhundert in Südfrankreich. Er zählte alle diesen Gruppen an seinen Fingerspitzen auf. Die Stoiker. Die Epikureer. Die Indianerstämme Guyanas, die sich umbrachten, um als Weiße wiedergeboren werden zu können.
»Näher an der Gegenwart haben wir den Massenselbstmord der People’s-Temple-Sekte von 1978 mit neunhundertundzwölf Toten.«
Die Branch-Davidian-Katastrophe von 1993 mit sechsundsiebzig Toten.
1994 Massenselbstmord und Mord der Sonnentempler mit dreiundfünfzig Opfern.
Die neununddreißig Toten des Selbstmords der Heaven’s-Gate-Sekte von 1997.
»Die Aktion der Credisten war nur ein Tropfen im Ozean«, sagt er. »Bloß ein weiterer vorhersehbarer Massenselbstmord in einer Welt voller Splittergruppen, die sich so lange dahinschleppen, bis sie vor der Entscheidung stehen. Vielleicht muss ihr Führer ohnehin sterben, wie es bei der Heaven’s-Gate-Gruppe der Fall war, oder sie werden von der Regierung attackiert, denken Sie nur an die russischen Mönche, an People’s Temple oder die Credisten.«
»Im Grunde ist das alles entsetzlich banal«, sagt er. »Die Zukunft aus der Vergangenheit erschließen. Genauso gut könnten wir auch eine Versicherungsgesellschaft sein. Wie auch immer, es ist unser Job, Sektenselbstmorde jedes Mal als etwas Neues und Aufregendes darzustellen.«
Seitdem ich Fertility kenne, frage ich mich, ob ich eigentlich der letzte Mensch auf der Welt bin, den noch irgendetwas überraschen kann. Fertility mit ihren Katastrophenträumen, und jetzt dieser glatt rasierte Mensch mit seinem in sich geschlossenen Geschichtsbild: Die beiden sind zwei Erbsen, die nicht aus ihrer langweiligen Hülse können.
»Realität heißt: Man lebt, bis man stirbt«, sagt der Agent. »Die Wahrheit aber ist, dass von der Realität niemand etwas wissen will.«
Der Agent schließt die Augen und drückt sich die offene Handfläche an die Stirn. »Die Wahrheit ist, dass die credistische Kirche nichts Besonderes war«, sagt er. »Sie wurde 1860 in der Epoche der Großen Erweckung von einer Splittergruppe der Milleriten gegründet, in einer Zeit, als religiöse Splittergruppen allein in Kalifornien mehr als fünfzig utopistische Gemeinschaften gründeten.«
Er öffnet ein Auge und zeigt mit dem Finger auf mich. »Sie haben ein Haustier, einen Vogel oder einen Fisch.«
Ich frage, woher er weiß, dass ich einen Fisch habe.
»Das muss nicht unbedingt stimmen, aber es ist wahrscheinlich«, sagt er. »Bekanntlich haben die Credisten ihren Arbeitsmissionaren das so genannte
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