Flugasche
Sonne schien noch unschlüssig, ob sie nun heute zur Arbeit antreten oder im Wolkenbett liegenbleiben wolle, um aus einem halbgeöffneten Auge ein Notlicht auf die Erde zu blinzeln.
Ich lief eilig, als hätte ich ein bestimmtes Ziel, durch die S-Bahn-Unterführung in Richtung der Rathauspassagen, wickelte meinen Schal fester um den Hals und wußte nicht mehr, warum ich Nordwestwind sonst haßte. Aus dem Schaufenster des Schuhgeschäfts, vor dem ich ohne besondere Absicht, mehr aus Routine, stehengeblieben war, lächelte ich mich blöde und selig an. Es war wieder dieses Gefühl, das ich einmal als Glück identifiziert hatte, das sich jetzt übermütig und feierlich in mir ausbreitete.
Ich studierte damals im zweiten Semester und hatte mich drei Tage lang an einem Referat über Shakespeare gequält. Ich war einige Tage zuvor neunzehn geworden, wohnte im rechten Seitenflügel eines verkommenen Mietshauses im Prenzlauer Berg. Außentoilette, Wasserleitung im Treppenhaus, Stube und Küche. Für mich Attribute demonstrativer Emanzipation von Eltern, Obhut und vorgezeichnetem Lebensweg. Kälte oder Geldmangel galten als willkommene Beweise meiner Selbständigkeit und wurden nicht als lästig empfunden. Das Wort lernen hatte ich durch das Wort arbeiten ersetzt. Lernen – das war die Schulzeit. Ich war erwachsen.
Drei Tage Qual um Shakespeare und um Tadeus, den ich liebte, mehr liebte als alle davor und die meisten danach, und den ich drei Tage nicht hatte sehen wollen, weil ich damals, zu Beginn meines Arbeitslebens, noch glaubte, ernsthafte Arbeit ließe Liebe nicht zu. Inzwischen weiß ich es besser oder habe auch nur die zermürbenden Konsequenzen derartiger Postulate nicht ertragen.
Als ich neunzehn war, mußte ich sie wohl ertragen haben, denn ich erinnere mich genau, wie ich nach Ablauf der drei Tage, deren sichtbares Ergebnis gebündelt auf dem schwarzlackierten Tisch lag, zur Telefonzelle ging, um Tadeus anzurufen.
Ein sonniger Abend im späten Frühling. Milde, staubige Luft, die mich langsam erwärmte, als ich erschöpft, matt, mit mir zufrieden, die Promenade entlanglief. Der Drachentöter nach bestandenem Kampf. Das versinkende Licht, die noch ungewohnte Wärme, der Duft, den die Linden verbreiteten, trennten mich von der übrigen Welt. Nur von Tadeus nicht. Ich spürte mich nicht beim Laufen, schwebte über der sandigen Erde, versank in ihr wie in Wattebergen, löste mich auf in der warmen, dicken Luft. Das ist Glück, dachte ich, so ist Glück.
Seit diesen fünf Minuten auf der Promenade hat mein Glück Gestalt, Geruch und Farbe. Glück ist die Abendsonne im Spätfrühling, sind blühende Linden, Shakespeare, Erschöpfung, Auflösung.
Mein »B.« lag neben der braunen Teekanne auf Luises Schreibtisch. Der Wind bläst meinen Mantel auf wie einen Fallschirm. Ich mache mich leicht, lege mich in die Strömung, strecke die Arme vor, als wollte ich schwimmen, und schwebe. Im Schaufenster des Schuhgeschäfts sehe ich, wie meine Füße sich von der Erde lösen. Einen Meter, zwei Meter, langsam noch. Der Wind trägt mich über die Straße zum Neptunbrunnen. Ich umkreise ihn in halber Höhe, dann steiler Aufstieg, einmal kurz um die Spitze der Marienkirche, und schon fliege ich schnurgerade über den Linden. Aus dieser Höhe bekommen die kostbaren Kolosse ein menschliches Maß, nur die Menschen sind nicht mehr zu sehen. Achtung, ein Windloch, zu spät, ich falle. Schrecklichster Gedanke an den Tod: sterben, wenn ich glücklich bin. Scharfer Aufprall, das Dach, nein, eine Gegenströmung, sanft hebt sie mich aus der Gefahr. Und jetzt zur Sonne, Dädalus, ach, ich weiß schon, das darf man nicht. Brüder, zur Sonne, zur Freiheit; Brüder, zum Lichte empor. Wir haben keine Zeit zum Fliegen. Wir müssen uns beeilen, immerzu beeilen. Zum Wurstladen, zur Sparkasse, ins Büro, in den Kindergarten, zur S-Bahn. Überall können wir zu spät kommen. Das Geld ist ausverkauft, die Sparkasse abgefahren, der Chef hat geschlossen, das Kind weint.
Über mir rauscht es, und durch eine zerteilte Wolke fällt helles Sonnenlicht. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Als ich den Kopf hebe, sehe ich in dunkelblaue Augen, blau wie der Nachthimmel und tief wie die Erde unter mir.
»Guten Tag«, sagt der Junge.
»Guten Tag.«
»Ich gehe spazieren.«
»Ich gehe auch spazieren.«
Der Junge schwingt zweimal kräftig die Arme und fliegt ein Stück voraus. Er fliegt wunderschön.
»Ich habe dich hier noch nie gesehn«, sagt
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