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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Beherrschung auch gegen die Natur geht. Ich glaube, ein Mensch hat ein Recht auf seine Wut. Und eigentlich war Luises Ärger über Günter Rassow nicht gerechter als Günters Rücksichtslosigkeit gegen Luise. Weder Günter noch Luise hatten die Situation verursacht. Sie führten einen Ersatzstreit, der nichts war als Ausdruck ihrer Wehrlosigkeit gegen Strutzer. Trotzdem war Luise gekränkt, aber weniger durch Günters Auftritt als durch die zwiespältige Lage, in die er sie brachte. Sie war der Chef, sie mußte Günter die Änderung des Manuskripts anweisen, obwohl das ihrer eignen Meinung widersprach. Sie erwartete Günters Verständnis und Einsicht. Statt dessen zwang er sie in eine Rolle, die fünf Minuten vorher Siegfried Strutzer gegenüber Luise eingenommen hatte. Das hatte sie verletzt. Und wenn ich vor einigen Augenblicken wirklich Scheiße geschrien hätte, wäre sie es auch, obwohl sie genau wüßte, daß es nicht ihr gegolten hätte.
    Aber ich will keinen Streit mit Luise, auch keinen Ersatzstreit. »Fahr noch mal nach B.«, sagt sie, »sprich das mit dem Parteisekretär ab oder mit deinem Alfred Thal oder wie der heißt, der war doch vernünftig. Wenn die einverstanden sind, ist Rudi die halbe Verantwortung los, verstehste, und dann kann ich mit ihm reden.«
    Luise hält mir die Lakritzentüte hin, ich nehme zwei, aber außer einem befremdlichen Blick auf meine Fingerspitzen, zwischen denen zwei schwarze Katzenköpfe klemmen, erfolgt nichts. »Na gut«, sagt sie und meint damit entweder die beiden Katzenköpfe oder meinen Beitrag.
    Ich sitze steif auf dem schwarzen Kunstlederstuhl, die Jeans kneifen mich in den Bauch, obwohl ich außer zwei Tassen Kaffee nichts im Magen habe. Der Pullover kratzt. Die Stiefel drücken. Ich fühle Arme, Hände, Beine, Rumpf, plump und schwer, alles hängt an einem hohlen, aufgeblasenen Ding, meinem Kopf.
    Nein, das bin ich nicht. Seit heute morgen weiß ich wieder: Ich kann fliegen. Die Arme ausbreiten, als wollte ich schwimmen, und ich fliege. Es muß eine böse Verwandlung mit mir vorgehen, sobald ich dieses Haus betrete, den Betonquader, in dem mir schwindlig wird von dem vielen Weiß. Weiße Decken, weiße Wände, Gänge, Zimmer, alles weiß und darin schwarze Kunstledersessel auf blanken Hühnerbeinen. Ich kann fliegen, so hoch, daß die Prunkbauten aller Jahrhunderte bis zur Erträglichkeit schrumpfen und ihr mich nicht mehr sehen könnt.
    »Manchmal fühle ich mich um mein Leben betrogen«, sage ich.
    Luise sieht auf, mit leichter Abwehr in den Augen. »Nun übertreib mal nicht.«
    »Ich übertreibe nicht. Ich werde um mich selbst betrogen. Ich rede gar nicht davon, daß ich im Zeitalter der Weltraumforschung sterben werde, ohne auf dem Montmartre spazierengegangen zu sein, ohne zu wissen, wie es in einer Wüste riecht oder wie eine frische Auster schmeckt. Darüber kann ich mich trösten. In ihren Postkutschen sind unsere Vorfahren auch nicht allzuweit gekommen und haben trotzdem etwas begriffen von ihrer Welt. Der größere Betrug ist: Sie betrügen mich um mich, um meine Eigenschaften. Alles, was ich bin, darf ich nicht sein. Vor jedes meiner Attribute setzen sie ein ›zu‹: du bist zu spontan, zu naiv, zu ehrlich, zu schnell im Urteil … Sie fordern mein Verständnis, wo ich nicht verstehen kann; meine Einsicht, wo ich nicht einsehen will, meine Geduld, wo ich vor Ungeduld zittere. Ich darf nicht entscheiden, wenn ich entscheiden muß. Ich soll mir abgewöhnen, ich zu sein. Warum können sie mich nicht gebrauchen, wie ich bin? Manchmal denke ich, vielleicht wäre ich in anderen Zeiten nützlicher gewesen, als Ordnung, Disziplin und Treue nicht als die obersten Gebote galten. Luise, ein Auto, das man hundert Kilometer mit angezogener Handbremse fährt, geht kaputt. Und ein Mensch, glaubst du, der bleibt heil? Der geht auch kaputt. Er bleibt nicht stehen, fällt nicht um, aber er wird immer schwächer, bringt nichts mehr zustande. Seine wichtigste Beschäftigung wird die Kontrolle über sich selbst, das Verleugnen seiner Mentalität, seiner Gefühle. Er reibt sich auf in dem Kampf gegen sich selbst, stutzt seine Gedanken, ehe er sie denkt, verwirft die Worte, bevor er sie gesprochen hat, mißtraut seinen eignen Urteilen, schämt sich seiner Besonderheiten, verbietet sich seine Gefühle; und wenn sie sich nicht verbieten lassen, verschweigt er sie. Schlimmer noch: Allmählich beginnt er unter der künstlichen Armut seiner Persönlichkeit zu leiden und erfindet

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