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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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er.
    »Fliege ich wirklich? Ich dachte, es ist ein Traum.«
    Der Junge lacht und fliegt einen kleinen Looping. »Du bist schön. Schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen. Du bist Josefa, ich erkenne dich.«
    Das ist die Stimme meines Freundes, er kommt und fliegt durch die Wolken und schwebt über den Dächern.
    »Ich sehe, ich sehe, und ich glaube nicht. Ich fliege unter dem Eishimmel, und die Wintersonne wärmt mich.«
    Mein Freund antwortet und spricht zu mir: »Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komme her. Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in unserem Lande.«
    »Komm, mein Freund, laß uns über die Stadt fliegen, bis der Tag kühl wird und die Schatten weichen.«
    Der Junge nimmt meine Hand, und wir fliegen zusammen, fallen in Wolkenberge und fliegen weiter. Ich schließe die Augen und schwebe durch Finsternis, die silbern durch meine Lider zuckt. Stehe auf, Nordwind, und komm, Südwind, und wehe durch meinen Garten. Auf einer weißen Wolke ruhen wir aus.
    »Und du heißt Pawel.«
    »Wenn du willst, heiße ich Pawel.«
    »Sag mir noch mehr von den schönen Sätzen.«
    »Du kennst sie doch selbst.«
    »Ich will sie von dir hören.«
    Der Junge sagt: »Wo ist denn dein Freund hingegangen, o du Schönste unter den Weibern? Wo hat sich dein Freund hingewandt? So will ich mit dir ihn suchen.«
    »Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief ihn, aber er antwortete mir nicht. Es fanden mich die Hüter, die in der Stadt umgehen, die schlugen mich wund, die Hüter auf der Mauer nahmen mir meinen Schleier.«
    Der Junge küßt mich auf den Mund.
    »Ich muß jetzt gehn.«
    »Bleib noch.«
    »Luise wartet schon.«
    »Kommst du wieder?«
    »Vielleicht.«
    »Komm wieder, du triffst mich bei Nordwind.« Er winkt.
    Ich fliege schnell, ohne noch einen Blick auf die Erde zu werfen, zurück zum Verlagsgebäude. Ich werde lieber in der fünfzehnten Etage landen und in die sechzehnte laufen. Sonst erschrecke ich Luise, und wer weiß, ob ihr Fenster geöffnet ist. Ich klopfe, öffne die Tür, ehe Luises Ja es erlaubt hätte. Sie sitzt wie immer in dem schwarzen Kunstledersessel auf dem metallenen Hühnerbein. Sie mustert mich, zieht ärgerlich die Stirn kraus und sagt streng: »Wie siehst du denn aus? Kämm dich erst mal.« Ich würde ihr gern von meinem Flug erzählen und von der Begegnung mit Pawel, aber ich weiß, Luise würde mir nicht glauben. Sie würde sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippen, ungeduldig den Mund verziehen und mit deutlicher Verachtung sagen: »Du spinnst ja.« Also erzähle ich ihr lieber von dem fürchterlichen Sturm, der einen fast glauben machte, man flöge weg wie ein Stück Papier. Und dann kann ich es doch nicht lassen, wage mich einen Schritt vor, ermutigt durch die Hoffnung auf unerwartete Reaktionen, die Luise immer läßt: »Stell dir vor, du würdest plötzlich um den Neptunbrunnen fliegen und dann um die Marienkirche …«
    »Bleib mal lieber auf der Erde«, sagt Luise nüchtern und greift nach meinem Manuskript, das nun nicht mehr neben der Teekanne, sondern aufgeblättert vor ihr liegt. Neun Seiten. Neunmal dreißig Zeilen zu je sechzig Anschlägen. Nichts Sensationelles, keine Entdeckung, kein Gedanke, den nicht jeder denken könnte, der einmal durch B. gelaufen ist. Nichts als der zaghafte Versuch, die Verhältnisse zu beschreiben, wie sie vorgefunden wurden. Trotzdem Grund genug zu fliegen, wichtig genug, jetzt ordentlich und gekämmt vor Luise zu sitzen wie vor der Standesbeamtin. Nur sind die Rollen vertauscht. Luise gibt ihr Jawort, oder sie gibt es nicht.
    Die Kälte, die ich von draußen in den Raum gebracht habe, ist schon aufgesogen von trockner Zentralheizungsluft, die mich durstig macht. Oder der Durst kommt von der Aufregung. Immer, wenn ich aufgeregt bin, habe ich Durst, ausgetrocknete Schleimhäute, die zusammenkleben und beim Sprechen Mund und Stimme verzerren. Zehnmal oder öfter habe ich dieses Gespräch durchdacht und durchgespielt, bis ich sicher war, jeder Überraschung vorgebeugt zu haben und jedem Verlauf gewachsen zu sein. Und jetzt kraucht Angst an mir hoch. Die Angst, mit Luise streiten zu müssen. Diese verfluchte, sentimentale Sehnsucht nach Harmonie. Menschen, habt euch lieb! Das unausrottbare Rudiment der Kindheit: die Suche nach Geborgenheit. Nichts korrumpiert uns so gründlich und schmerzlos wie

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