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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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später heiratete. Jetzt sieht sie wieder aus wie früher, kokettiert mit ihrer ehelichen Würde und scheint glücklich zu sein, obwohl sie mir einmal gesagt hat, die große Liebe sei der neue Mann nicht. Aber Ulrike wird wohl weniger durch die Liebe glücklich als durch die Ehe.
    Müßte ich nicht meine breiten, eckigen Schultern mit mir herumschleppen, die offenbar dazu animieren, freundschaftlich darauf herumzuklopfen, während man ebenso freundschaftlich die Erfahrungen über die Unbilden des Kohlenschleppens austauscht, könnte ich mich wie Ulrike durch Heirat der Verantwortung für mich entziehen. Hier hast du sie, würde ich zum Meinmann sagen. Und wäre ich nach zehn Jahren nicht glücklich oder hätte mich nicht beruflich qualifiziert, würde ich sagen, er sei schuld, hätte mein Vertrauen enttäuscht und sei seiner Verantwortung nicht genügend nachgekommen. So aber muß ich armer Mensch selbst für mein Glück sorgen, muß meine Grenzen als solche akzeptieren. Ich darf nicht mit leichtem Seufzen und verklärter Erinnerung darauf verweisen, was aus mir alles hätte werden können, hätte ich nicht so selbstlos und aufopferungsvoll Studium und Karriere des Meinmanns unterstützt. Niemand außer mir ist zuständig für meine Unfähigkeiten. Weil ich so breite Schultern habe.
    Günter Rassow erzählt gerade gestenreich die Geschichte eines Chefredakteurs, der sich am 17.Juni, als die brüllende Menge vor dem Gebäude der Redaktion randalierte, in einem Kleiderschrank einschloß. Immer, wenn er getrunken hat, erzählt Günter diese Geschichte. Günter Rassow selbst, damals Volontär an dieser Bezirkszeitung, erlebte vom 17.Juni nur eine Stunde, dann traf ihn eine Bauklammer am Hinterkopf.
    »Ja, stellt euch vor, im Schrank verkroch der sich. Aber ich bitte euch: das bleibt unter uns.«
    Mit dieser Beschwörung endet die Geschichte immer. Natürlich, kein Wort, versprechen wir, auch wie immer.
    Fred Müller, der bis dahin mit einem abwesenden Lächeln zugehört hat, krümmt sich plötzlich, als sei ihm übel, streckt dann sein Kreuz und schlägt mit der zusammengekrampften Faust auf den Tisch. Ein Glas fällt um. Dann sagt er leise und lallend: »Ich habe die ganze Scheiße satt. Diese Arschlöcher. Schleimscheißende Kriechtiere. Alles fette Ärsche und hohle Eierköpfe, Hirnaussauger!«
    Die letzten Worte brüllt er. Dann sinkt er in sich zusammen, wischt sich mit dem Handrücken den Speichel von der Unterlippe und stiert vor sich hin. Alle schweigen betroffen. Eva Sommer und Michael tanzen nicht mehr. Hans Schütz stellt das Glas wieder hin, gießt einen Schnaps ein und schiebt ihn Fred Müller hin. »Na, trink einen und beruhige dich«, sagt er zu Fred, der apathisch und volltrunken in seinem Sessel hängt. Mit dumpfem Geräusch läßt er den Kopf auf die Tischplatte fallen und schläft ein.
    Und morgen wird er pünktlich um dreiviertel acht in den Fahrstuhl steigen. Mit teilnahmslosen, rotgeäderten Augen wird er die angezeigten Stockwerke verfolgen, wird nicht wagen, tief auszuatmen, weil der üble Geruch nach unverdautem Schnaps die mißbilligenden, angeekelten Blicke der Mitreisenden auf ihn lenken würde. In der 16.Etage steigt er aus, verschwindet, froh, niemanden auf dem Gang getroffen zu haben, hinter der Tür mit der Nummer 16007. Er hängt seinen Mantel in den Schrank. Ihm ist übel, und eine Schwäche überfällt ihn, die ihm Beine und Hände zittern läßt. Er holt die halbe Flasche Wodka aus dem Versteck, trinkt hastig ein Glas aus, gießt es zum zweiten Mal voll und stellt es in seinen Schreibtisch. Dann öffnet er das Fenster, durch das kalte Luft dringt und Straßenlärm, der das sechzehnte Stockwerk als diffuses Dröhnen erreicht, nicht mehr zerlegbar in seine Bestandteile. Auf dem Schreibtisch liegen Zeitschriften und Manuskripte, die er zu bearbeiten oder zu begutachten hat, aber er sucht noch nach Möglichkeiten, sich dem Ekel zu entziehen, der ihn befallen wird, sobald er das Papier zwischen den Fingern spürt und die ersten Sätze gelesen hat. Fünf Minuten Aufschub noch. Er geht auf die Toilette, wäscht sich die Hände, trocknet sie unter der Luftdusche, bleibt stehen, bis der Apparat sich wieder ausschaltet. Morgens ist die Toilette ein sicherer Raum, um allein zu sein. Man kommt von zu Hause, hat sich dort aller Bedürfnisse entledigt, morgens sind die Toiletten auch noch sauber. Er kämmt sich vor dem Spiegel, vermeidet, dabei in sein Gesicht zu sehen. Er weiß, wie er aussieht,

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