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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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liegen rote und blaue Papierfetzen und zerknickte Blumen aus Wachspapier. Ich höre meine Schritte nicht. Plötzlich bemerke ich, daß sich der orangefarbene Streifen langsam auf mich zubewegt. Ich gehe weiter. Bei geringerer Entfernung löst sich der Streifen in einzelne orangefarbene monströse Fahrzeuge auf, die in einer Reihe nebeneinander fahren. Die Fahrzeuge erinnern an die Autos der Straßenreinigung. Hinter ihnen sind die Straßen sauber, und die Papierfetzen sind aus den Rinnsteinen verschwunden. Ich gehe weiter. Ich habe Angst. Ich will nicht weitergehen, aber ich gehe. Ich gehe schneller, lautlos. Lautlos nähern sich die Monstren. Noch dreißig Meter zwischen ihnen und mir oder nur zwanzig. Ich will weglaufen, seitwärts, aber einen Fuß setze ich vor den anderen in Richtung der Monstren. Ich weiß: das ist die Bedrohung, die ich seit langem fürchte. Im Schrittempo nähert sie sich. Ich kann nicht ausweichen. Der Wind begleitet mich. Wir gehen zusammen. Jetzt weiß ich: darauf habe ich gewartet. Noch zehn Meter. In den Fahrzeugen sitzen keine Menschen. Sie werden nicht anhalten. Niemand sieht mich. Ich habe keine Angst mehr. Ich muß weitergehn, muß …

    Als ich kam, war Luise nicht in ihrem Zimmer. Zwei Tage hatte ich an dem Manuskript geschrieben, ohne Unterbrechung von morgens bis abends, obwohl es noch eine Woche war bis zum Abgabetermin. Aber ich wollte Zeit haben für die zweite Variante, falls mir selbst Zweifel kommen sollten an dem Sinn einer ungemilderten Schilderung meiner Erlebnisse in B.
    Erst als ich den letzten Satz geschrieben hatte, wußte ich, daß ich nichts anderes mehr würde schreiben können über B. Ich hätte zuerst die halbe Wahrheit sagen müssen, um danach noch Lust auf die ganze zu haben. Aber nachdem ich geschrieben hatte, was mir als die ganze Wahrheit erschien, war ich unfähig, ein vernünftiges und glaubhaftes Maß an Unwahrheit zu finden. Ich wollte es so schnell wie möglich perfekt machen, wollte keinen Spielraum lassen für kleinmütige Grübeleien über eine Entscheidung, die ich als endgültig betrachtete.
    Am anderen Morgen um acht fuhr ich in die Redaktion, und als ich kam, war Luise nicht da. Nur ihre Handtasche stand neben dem Stuhl und auf dem Schreibtisch die kleine braune Teekanne. Ich legte das Manuskript daneben und schrieb einen Zettel: »Komme in zwei Stunden wieder und bin auf alles gefaßt. Sei du es bitte auch, bevor du liest. J.«
    Ich holte meinen Mantel aus dem Großraum und beschloß, spazierenzugehen. Auf keinen Fall wollte ich mich in den Großraum setzen und auf den Rücken von Günter Rassow starren, dessen Schreibtisch vor meinem stand. Ich kannte Günters mageren Rücken ganz genau, jede Muskelbewegung, wenn er den Arm ausstreckte, um nach dem Telefon zu greifen, die hervortretenden Schulterblätter, wenn er den Kopf in die Hände stützte, und die spitzen Wirbel, die unter dem Hemd sichtbar wurden, wenn er sich nach vorn beugte.
    In den drei Jahren, die ich täglich, außer Sonnabend und Sonntag und außer an Tagen, an denen ich auf Dienstreisen bin, auf Günter Rassows Rücken starre, habe ich zu diesem Rücken eine eigenständige Beziehung entwickelt. Es gibt Tage, an denen mich seine kränkliche Magerkeit rührt, geradezu mitleidig stimmt. An anderen Tagen verachte ich diesen schwächlichen, ewig leicht gebeugten Rücken, der über so armselige Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, der kaum das Bedürfnis verspürt, sich zu strecken und zu weiten. An solchen Tagen weckt der Rücken in mir alle schlummernden Aggressionen, und ich muß mich beherrschen, ihn nicht mit Radiergummi oder Bleistift zu bewerfen.
    Es kommt auch vor, allerdings selten, daß ich den Rücken gar nicht wahrnehme, daß er mir gleichgültig ist. Zwischen diesen drei Möglichkeiten liegen zahlreiche Nuancen, in denen sich meine Beziehung zu Günter Rassows Rücken bewegt. Und heute hätte ich ihn nicht ertragen.
    Ohne zu erwarten, daß sie mir glaubt, sagte ich der Sekretärin, ich müsse zur Pressestelle des Ministeriums für Kohle und Energie, und verließ das Haus.
    Das Warenhaus am Alex hatte noch geschlossen. Über den Platz wehte ein bissiger Wind, der in unregelmäßigen Intervallen die Passanten anfiel und ihnen mit spitzen Zähnen in die Gesichter biß. Eine Bockwurstbude war dicht umlagert von Hungrigen. Die armen Menschen. Was mußte ihnen Schreckliches widerfahren sein, daß sie bereit waren, am frühen Morgen schon Bockwurst zu essen, in dieser Kälte. Die

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