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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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mit den Töpfen hantierte, sorgfältig die Spaghetti dämpfte und die Sauce anrührte. Sie hatte Lust, ihn anzufassen, nur so, den Hals berühren oder den Arm, den Pullover, der sicher warm war von seiner Haut.
    Im letzten Jahr hatte sie Veränderungen an ihrem Körper bemerkt, die nicht mehr durch Gewichtsab- oder -zunahme oder durch Schwangerschaftsfolgen zu erklären waren. Die Haut am Unterarm schob sich in unzählige Runzeln, wenn sie mit dem Daumen dagegen drückte, die ersten widerlichen Fettgrübchen wellten die Innenseiten der Oberschenkel. Der Verfall. Die Nähe des Alters. Tod. Und immer die Furcht, das einzige Leben zu vertun. In der zehnten Klasse hatten sie einen Aufsatz geschrieben über den Sinn des Lebens. Sie erinnerte sich an den ersten Satz: Die Menschen können nicht leben, ohne ihrem Leben einen Sinn zu geben. Alle glaubten sie an den Sinn des Lebens wie an den lieben Gott, eine große Idee, die ihnen voranschweben und ihnen den rechten Weg weisen würde. Die Innenseiten ihrer Oberschenkel begannen zu verfallen, und sie wußte immer noch nicht, was sie in ihrem Leben tun mußte. Sie hatte ein Kind in die Welt gesetzt und schrieb Artikel für eine Illustrierte. Als sie zehn Jahre alt war, schien ihr kein Leben lohnend, in dem sie nicht berühmt würde. Ein Mensch zu werden, dessen Name nicht in den Schulbüchern stand, war eine Aussicht, die sie für sich selbst nicht in Betracht zog.
    »Worauf soll ich warten?« fragte sie müde, »aufs Heiraten vielleicht? Quält Sie Migräne? Heiraten Sie. Leiden Sie unter Fettsucht? Heiraten Sie. Ist Ihr Kind schwer erziehbar? Heiraten. Haben Sie eine zu lange Nase? Heiraten. Was soll man bloß den Leuten raten, die schon verheiratet sind?«
    »Die Scheidung. Außerdem habe ich nicht vom Heiraten gesprochen«, sagte Christian.
    »Dann erzähl keine Märchen. Dann sag: Liebe Josefa, du solltest öfter bumsen, sonst wird deine Nase zu lang. Dann könnte ich dir antworten: Lieber Christian, ich bumse oft genug, aber davon wird meine Nase nicht kürzer. Wenn ich eine Hexe werde, sind nicht die Männer schuld. Solange sie nicht meine Chefs sind.«
    Josefa saß auf dem Fensterbrett. Gegen die weiße Sonne, die sich durch die Wolken geschoben hatte, konnte Christian nur ihre Umrisse erkennen. Sie saß still, eher schlaff als entspannt. Ihre plötzlichen Wandlungen irritierten ihn. Ebenso könnte sie im nächsten Augenblick aufspringen und aus Gründen, die nicht einmal sie genau kannte, in die aggressive Munterkeit zurückfallen, mit der sie vorhin durch seine Tür gestürmt war.
    »Das Schlimmste ist«, sagte sie, »sie haben uns so viel über Revolutionen erzählt, daß ein Leben ohne Revolution ganz sinnlos erscheint. Und dann tun sie so, als sei für uns keine übriggeblieben, als hätten alle Revolutionen der deutschen Geschichte bereits stattgefunden. Die letzte war ihre. Wir dürfen noch den Staub beiseite kehren, der dabei aufgewirbelt wurde. Eure Revolution ist die Verteidigung der Errungenschaften, sagen sie und machen uns zu Museumswächtern. Du rettest dich in die Geschichte, auf die Barrikaden der Jakobiner, spielst mal Marat oder Robespierre, sicher Robespierre, und kannst dich mit revolutionärem Sturm vollpumpen, bis du fliegst. Aber ich soll die Revolution von hundertachtzig Tonnen Flugasche reinwaschen, soll sie putzen und polieren mit Glanzmitteln aus der Sprühdose und soll sie als PSgewaltiges Gefährt in die Zukunft auf Zeitungspapier anpreisen. Hinterher gehe ich zum Friseur und lasse mir die Haare blond färben, weil ich süchtig bin nach Veränderung.«
    Josefas Spontaneität, die ständig nach Aktionen drängte, war Christian fremd. Er selbst plante langfristiger. Hektik, betriebsame Aktivitäten, größere Menschenansammlungen verunsicherten ihn, und er entzog sich ihnen, wo er konnte. Das Land und das Jahrhundert, in die hinein er geboren war, betrachtete er als Zufälle seines Lebens, die er als faktische Grenzen akzeptierte, nicht als gedankliche Barrieren.
    »Du hast dein B. geschrieben, wie du wolltest. Nun warte doch erst mal ab. Dein Strutzer sitzt jetzt sicher friedlich am Kaffeetisch und verschwendet keinen Gedanken an dich, während du dir Dornen aus der Kopfhaut ziehst, die noch gar nicht drin sind. Auch eine Art Hypochondrie.«

    Nach dem Essen brachten sie den Sohn zur Großmutter und fuhren zu Karl Brommel, einem Freund von Christian, den Josefa bisher drei- oder viermal gesehen hatte. »Dich allein halte ich heute nicht

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