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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Wirtin, die bei schönem Wetter immer auf einem kleinen Holzstuhl vor der Tür gesessen hatte, gestorben war.
    Sie hatte das Foto in ein Buch gelegt, das sie sobald nicht lesen würde, hatte sich gesagt, daß sie schließlich Dreißig sei, berufstätig, alleinstehend mit Kind (hatte sie wirklich alleinstehend gedacht?), und daß es normal sei, älter zu werden.
    Josefa stand auf, wusch sich die vom Speck fettigen Hände, betrachtete sich im Spiegel, der über dem Waschbecken hing, kämmte sich, um sich ungeniert länger ansehen zu können.
    »Quatsch«, sagte sie, »die Nase ist nicht länger als sonst.«
    Sie setzte sich auf das Fensterbrett und sah zu, wie Christian die Spaghetti in das kochende Wasser schüttete. Sie war zu müde und zu angestrengt, um sich zu wehren. Vielleicht wartete sie wirklich auf irgendwas oder irgendwen. Sie selbst hätte nicht genau sagen können, woraus die Unruhe in ihr bestand, die langsam anwachsende Spannung, die sich, wenn sie ein bestimmtes Maß überschritten hatte, in lautem Stöhnen oder in Kraftausdrücken entlud, ohne jemals gänzlich zu verschwinden.
    Es gab Wochen, in denen sie sich ständig verdächtigte, das Falsche zu tun. Sie schlief mit einem Mann und überlegte, ob es nicht ein anderer sein müßte; schrieb eine Reportage und war sicher, sie hätte ein anderes Thema wählen müssen; besuchte Leute, um nach einer halben Stunde festzustellen, sie wäre besser allein zu Hause geblieben; las kein Buch zu Ende aus Furcht, ein anderes könnte wichtiger sein –
    Ruhelose Zustände, die häufig in Extremen endeten, in hochgestapelten Verliebtheiten, die für einige Wochen zum Lebensinhalt avancierten, oder in irrsinnigen häuslichen Putz- und Räumaktionen, um wenigstens die Illusion einer Ordnung zu schaffen. Die Sicherheit, das und nichts anderes tun zu müssen, blieb aus. Im Gegenteil: Die Angst, das Eigentliche zu verfehlen, steigerte sich zur Panik, wenn sie nachts allein im Bett lag und einen Tag aus ihrem Leben abhakte.
    Das Eigentliche, nach dem sie suchte, war die ihr gemäße Biographie, einmalig und für keinen anderen passend als für sie. Sie kannte nicht viele Menschen, von denen sie sicher annahm, daß sie mit ihrem Eigentlichen identisch waren. Der Großvater Pawel gehörte dazu und die Großmutter Josefa, auch Werner Grellmann. Jede dieser Biographien beruhte auf einem Bekenntnis. Der Großvater bekannte sich zu seinem Judentum (vielleicht nur, weil ihm keine Wahl blieb), die Großmutter bekannte sich zu ihrem Mann, Werner Grellmann bekannte sich zur Wissenschaft. Es waren tätige Bekenntnisse, folgenreiche, für die Großeltern tödliche. Oder anders: Nicht die Biographie beruhte auf dem Bekenntnis, sondern das Bekenntnis erfolgte als Notwendigkeit der Biographie, war Bekenntnis zu sich selbst. Der Sinn des Lebens wurde angenommen als der konkrete Inhalt dieses konkreten einmaligen Lebens.
    Auch Luises Leben wurde bestimmt durch ein Bekenntnis. Trotzdem waren für sie der ideelle Entwurf ihrer Biographie und seine tätige Verwirklichung nicht mehr eins. Luise war Kommunistin, und ihr ideelles Bekenntnis galt der Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten. Als Ergebnis ihrer Arbeit aber lag Woche für Woche eine Zeitung vor, die ihr nicht gefiel und denen nicht, für die sie gemacht wurde, in der verschwiegen wurde, wovon Luise hätte sprechen müssen, in der nichts zu lesen war über Flugaschekammern, verätzte Bäume und vergessene Städte. Der lange Weg, den Luises Absicht zurückzulegen hatte, ehe aus ihr eine Tat wurde, führte über unzählige kleine Einsichten, disziplinarische Rücksichten, innere und äußere Kontrollstationen, an dessen Ende eine Tat stand, die nicht zum Fleisch ihres Entwurfs geworden war, sondern zu einem kretinösen Ableger.
    Vor dreißig Jahren hatte Luise andere Erfahrungen gemacht. Damals wollte sie das Land wieder aufbaun und klopfte am Sonntag Steine. Sie wollte Junker enteignen und schrieb leidenschaftliche Reportagen über die Bodenreform. Damals waren Luises Taten das feste Fleisch ihrer Absichten. Dergleichen hatte Josefa nie erlebt. Sie hatte gelernt, wer ihre Vorfahren waren: von Spartakus bis Saint-Just, von Marx bis zu den Antifaschisten gehörten alle Kämpfer der Weltgeschichte in ihre Ahnenreihe. Dort war die Wurzel ihrer Absichten. Aber über das Maß ihrer Taten ließ sie Strutzer entscheiden, der Josefas Bekenntnis dazu verurteilte, eine schlaffe schrumplige Haut zu bleiben.
    Sie sah Christian zu, wie er

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