Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
Vom Netzwerk:
behandelt worden war. Zwei Monate später wurde sie als Kandidatin aufgenommen, bekam feierlich rote Nelken überreicht und ein Buch mit einer Widmung, die besagte, daß die Genossen der Parteigruppe sich freuten, sie, Josefa Nadler, in ihren Reihen begrüßen zu können.
    Christian saß am Küchentisch, rauchte eine Zigarette und verglich die Josefa, die jetzt verbissen den Speck schnitt, mit der Josefa, die er vor zehn Jahren gekannt hatte.
    »Weißt du eigentlich, daß alle Hexen in ihrer Jugend gut und schön waren?« fragte er.
    »Und woher weißt du das?«
    »Weil ich eine kannte, die schöne Hexe Jala-Nija, die Tochter des Himmels und der Nacht. Sie liebte einen Riesen, der jenseits der Berge lebte, aber sie wollte ihn nicht heiraten, ehe sein Herz nicht ebenso groß war wie seine Kraft. Sie schickte ihn in die weite Welt, wo er finden sollte, was er noch nicht kannte. Und er sollte zu ihr zurückkehren, sobald er es gefunden hatte. Sie wartete hundert Jahre lang, und ihre Nase wurde länger und ihr Kinn spitzer, sie wartete zweihundert Jahre lang, und sie bekam einen runden Rücken und eine krächzende Stimme. Sie wartete dreihundert Jahre lang, und ihr wuchsen zwei lange Zähne über die Lippen, und sie haßte alle, die nicht warteten. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann wartet sie noch heute.«
    »Und der Riese?« fragte Josefa.
    »Hat wohl gefunden, was er noch nicht kannte.«
    »Ich warte nicht.«
    »Aber du wirst böse.«
    Sie überlegte, ob sie widersprechen oder ihre Furcht zugeben sollte. Vor einigen Wochen hatte sie ein Bild gefunden, das aus der Studienzeit stammte, sechs oder sieben Jahre alt. Josefa mit einem breiten slawischen Kindergesicht, in dem die konkave Wölbung zwischen Backen- und Kieferknochen noch nicht zu erkennen war. Und obwohl sie sich offensichtlich für das Foto um ein ernstes und würdiges Absolventengesicht ohne die Spur eines Lächelns bemüht hatte, zog sich der Mund in den Winkeln leicht nach oben. Sie hatte ihr Spiegelbild mit dem Gesicht auf dem Foto verglichen, Nase, Augen, Kinn waren dieselben, selbst die Frisur, glattes Haar bis auf die Schultern, die flache Stirn frei. Nicht die dünnen Linien, auf die das Licht harte Schatten warf, machten die Veränderung in dem Gesicht aus, das sie starr und ernst aus dem Spiegel ansah. Sie zog mit den Fingerspitzen Mund- und Augenwinkel leicht nach oben, spannte die Haut, ohne die Veränderungen korrigieren zu können. Die Fältchen waren nicht schuld. Das Altern beginnt innen, die Falten zeigen es nur an. Hinter den Augen hatte es sich verändert, ausgelöschte Erwartung, zwischen Nase und Mund ein bitterer Zug, der noch nicht einmal seine Furche gezogen hatte, aber erkennen ließ, wie sie verlaufen würde, bald. Die Art, in der sich die Lippen schlossen. Der Mund auf dem Foto war nicht geöffnet, zufällig. Der Spiegelmund war verschlossen. Dazwischen sieben Jahre oder sechs. Sie erinnerte sich an die Gipsstraße. Ein glutheißer Sommertag, die Luft flimmerte über dem Damm, es roch nach Staub und geschmolzenem Teer. Aus den geöffneten Türen der Kneipen quoll saurer Bierdunst, der zugleich abstieß und einlud. Tadeus zog mit ihr von einer Kneipe in die andere, Mulackstraße, Linienstraße, Große Hamburger, abwechselnd Faßbrause und Pfefferminzlikör. »Einen kleinen Grünen, bitte.« In den Fenstern der gleichförmigen grauen Häuser alte Frauen, die Ellenbogen auf Sofakissen gestützt, Katzen sonnten sich in den Blumenkästen, alle Haus- und Kellertüren offen, gegen den Schwamm. Halbnackte Kinder hatten Decken auf den Hinterhöfen ausgebreitet und spielten Urlaub am Meer. Tadeus hatte seinen Arm um Josefa gelegt, die Hitze schmolz sie zu einem Vierbeiner, und als sie sich küßten, keifte eine zahnlose Alte, ob sie kein Bett hätten, in das sie gehen könnten.
    »Doch«, hatte Tadeus gesagt, »wir haben’s, aber leider nicht bei uns.«
    Damals hatte sie über die Alte lachen müssen.
    Später ging sie allein dorthin, ohne Tadeus, mit anderen. Aber immer im Sommer, an heißen Tagen, wenn die Gerüche aus Kochtöpfen, Bratpfannen und muffigen Kellern durch die geöffneten Türen und Fenster quollen und wie Girlanden über der Straße hingen.
    Wann sie das letzte Mal dort gewesen war, wußte sie nicht mehr, auch nicht, mit wem. Sie erinnerte sich, daß es in dem letzten Jahr statt der Faßbrause Bitter-Lemon aus dem Getränkekombinat gab, und die kleine Kneipe zu ebener Erde in der Linienstraße war geschlossen, weil die

Weitere Kostenlose Bücher