Flugasche
Zwischen dem Himmel und dem Kopfsteinpflaster unter unseren Füßen wird sich nichts bewegen außer kleinem Getier, Echsen und Käfern. Den letzten von uns wird niemand begraben können, aber der Gestank seines verwesenden Körpers wird keinen stören.
In dem grauweißen Licht, das aus einem Fenster auf die Straße fiel, glänzten die Kopfsteine wie die Schädeldecken einer unterirdischen Armee. Steinköpfe. Wir laufen auf Toten. Wo wir laufen, laufen wir auf Toten, auf den Milliarden, die vor uns gelebt haben. Meterweise liegen sie unter uns. Bestimmt denkt Brommel jetzt an Bunni. Sie ist vor acht Jahren gestorben, und seitdem hat Brommel es mit keiner Frau länger als drei Monate ausgehalten. Oder keine Frau hat es mit Brommel ausgehalten. Einmal hatte Josefa ihn in seiner Stadtwohnung besucht. Fünf oder sechs große Fotos hingen an den Wänden und standen in den Regalen, auf allen Fotos Bunni mit ihrem schmalen Kopf und mit der zu großen fleischigen Nase und mit diesen Augen, denen man keine andere Farbe zutraute als Grau. Die Augen hatten sie an den Bruder erinnert, der schon fünfzehn Jahre vorher gesagt hatte, seine Schwester würde sterben, ehe sie Dreißig sei. Die Augen auf den Fotos sahen aus, als gehörten sie einer, die wußte, daß sie bald stirbt. Oder es schien Josefa so, weil Bunni gestorben war.
»Machen wir kehrt«, sagte Brommel.
Das Kopfsteinpflaster brach ab, die Straße mündete in einen ausgefahrenen Sandweg, der sich zehn Meter weiter in der Dunkelheit verlor. Sie gingen den gleichen Weg zurück.
Rechts unten in der Zeitung eine mittelgroße schwarzumrandete Anzeige. In fetten Buchstaben: JOSEFA NADLER. Darüber klein gedruckt: Zu früh und unfaßbar für uns alle auf tragische Weise aus dem Leben gerissen. Darunter: Sie war eine begabte, ständig einsatzbereite Journalistin. Dann noch ein Satz, in dem ehrendes Angedenken vorkommt. Begabt würden sie sicher durch treu oder zuverlässig ersetzen. Aber in der Grabrede würden sie von begabt sprechen und von den vielen ungeschriebenen Reportagen, auf die sie nun verzichten müssen. Ihr kritischer Verstand … Josefa stellte sich den schwarzbefrackten Herrn vor, der auf dem Rednerpodest über den Kränzen und Blumen schwebte. Der Mann sah aus wie Siegfried Strutzer. »Die mit kritischem Verstand ungeschriebenen Reportagen …«, hörte sie.
Für diese Formulierung mußte sie nicht erst sterben.
In der ersten Zeit werden sie noch den Konjunktiv benutzen: »Aus ihr hätte eine blendende Journalistin werden können.« Mit dem Vergessen werden sie mutiger: »Aus ihr wäre eine blendende Journalistin geworden.« Bis sie sich daran gewöhnt haben, daß mein Anspruch auf Zukunft erloschen ist, und sie mich endgültig aus den Listen der Lebendigen streichen. »Sie war eine blendende Journalistin«, werden sie dann sagen, und niemand wird sich dadurch gestört fühlen. Ein oder zwei Jahre werden sie brauchen oder weniger, um mich gewalttätig zu vollenden. Sie werden mich schöner, klüger, besser machen, als ich war, und mich in der Verklärung versenken. Ein paar Jahrzehnte, und sie werden im Geburtenregister nachsehen müssen, um zu wissen, daß es mich gegeben hat. Trotzdem rennt man wie eine Ameise über die Erde, schafft das Einmaleins an, rafft ein bißchen Literatur, ein bißchen Ökonomie, ein Häuflein Wissen als Wegzehrung fürs Leben, boxt mit fettleibigen Siegfried Strutzers, rennt nach der neuesten Mode, als ginge es ums Überleben. Warum setzen wir uns nicht unter die Sterne, bauen Gemüse an, melken die Kuh, scheren das Schaf und weben an dunklen Abenden den Stoff für unsere Jeans.
Brommel hielt sein Grogglas in den Händen, als wollte er sich daran die Finger wärmen. Er lag mehr in seinem Sessel, als er darin saß. Christian blätterte in einer Westillustrierten. Brommel musterte Josefa aus seinen Augenschlitzen. »Sie haben sich verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben«, sagte er.
»Ich glaube«, sagte Josefa. »Warum?«
»Sie sehen aus, als hätte der Bazillus Zweifel Sie befallen.«
Brommels Anspruch, den Leuten in die Seele gucken zu können, hatte Josefa an ihm nie leiden können. Dazu diese verkrampfte Ausdrucksweise. Sicher fühlte er sich seinem Vater verpflichtet, der Psychoanalytiker war.
»Christian hat mir eine Zukunft als Hexe vorausgesagt. Was haben denn Sie zu bieten?«
Brommel lachte, und seine Augen verschwanden gänzlich hinter den Schlitzen. »Das kommt darauf an, was Sie zu bieten
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