Flugasche
haben.«
»Mein Innenleben stand heute schon zur Diskussion. Ich habe keine Lust, es noch einmal vorzuführen.«
»Dann hat Ihr Innenleben wohl einen Hinkefuß?«
Josefa sah zu Christian. Christian las.
»Vielleicht«, sagte sie, nahm eine Zigarette, sah dann angestrengt auf den Fußboden. Brommel hatte sich vorgebeugt. Er betrachtete sie neugierig und ungeniert. »Sie erschienen mir früher sehr viel sicherer«, sagte er.
»Ich habe doch heute noch gar nichts gesagt.«
»Eben das wundert mich«, sagte Brommel, »erinnern Sie sich an unsere Diskussion über Strafvollzug und Todesstrafe?«
Josefa wurde rot. »Das ist schon sieben Jahre her«, sagte sie.
»Sechs«, sagte Brommel, »genau sechs. Es war Bunnis zweiter Todestag. Und ich erinnere mich, daß Sie über das Leben anderer Menschen sprachen wie ein Bootsverleiher über Ruderkähne. Wenn ich mich recht entsinne, beriefen Sie sich dabei sogar auf Lenin und sämtliche französischen Revolutionen.« Brommel genoß sein gutes Gedächtnis.
»Unser Gespräch war damals für mich sehr wichtig«, sagte Josefa. Sie gab es auf, den Fußboden zu fixieren, und wandte sich Brommel zu. Brommel lehnte sich wieder in einen Sessel. »Noch wichtiger war aber ein Mädchen, Heidi Arndt.«
»Das ist interessant«, sagte Brommel, der gern Geschichten hörte. »Erzählen Sie.«
»Eine Kollegin recherchierte in einem Berliner Konfektionsbetrieb und lernte dort eine junge Frau kennen, die zwei Jahre in einer Arbeitserziehung gewesen war. Inzwischen hatte sie geheiratet, die Arbeitsplatzbindung, zu der sie verurteilt war, lief auch gerade ab. Die Geschichte wäre sicher bald vergessen worden von den anderen. Trotzdem sagte die junge Frau, sie sei bereit, über sich und ihr Leben schreiben zu lassen. Das muß man sich vorstellen, in einer Illustrierten, mit Fotos. Meine Kollegin wurde krank oder hatte Urlaub, das Thema bekam ich. Ich besuchte Heidi Arndt zu Hause. Sie wohnte in der Nähe der Warschauer Brücke. Eine dunkle Altbauwohnung, eingerichtet mit allem, was heute für gewöhnlich in Wohnungen gehört: Schrankwand, Sitzecke, Auslegware, Dederonstores.
Heidi Arndt war dreiundzwanzig Jahre alt. Sie war klein und zierlich. Unter den Augen hatte sie weiche Polster wie ein Kind. Wenn sie den Mund öffnete, sah sie um zehn Jahre älter aus. Das lag an den zerfressenen Zähnen. Seitdem ist mir öfter aufgefallen, daß Haftentlassene schlechte oder für ihr Alter zu wenig Zähne haben. Heidi Arndt erzählte mir ihre Geschichte sachlich, ohne Scham, wie mir schien, auch ohne phantastische Beigaben. Sie war die jüngste von drei Geschwistern. Der Vater war Schlosser, die Mutter Hilfskraft in einer Betriebsküche. Die Kinder wurden streng erzogen. Die beiden Älteren wehrten sich nicht. Auch Heidi, die intelligenter und lebhafter war als die anderen, beugte sich. Mit sechzehn hatte sie einen Freund und verlobte sich heimlich. Aber jeden Abend um acht mußte sie zu Hause sein und konnte dann vom Balkon aus sehen, wie ihr Verlobter mit seinem Motorrad auf Tour fuhr, zuerst allein, später mit Mädchen. Die Verlobung ging in die Brüche. Nach einem halben Jahr verliebte sie sich wieder. Sie bekam ein Kind, die Eltern warfen sie raus. Bei einer alten Frau um die Ecke fand sie ein Zimmer. Der neue Freund war ein übler Bursche, der viel soff und selten arbeitete. Heidi schmiß die Lehre, weil sie morgens zu müde war von den durchzechten und durchliebten Nächten. Der Freund hatte immer Geld, sie wußte nicht, woher, es kümmerte sie auch nicht. Sie zog in die Wohnung des Freundes. Nach einem Jahr stand die Polizei vor der Tür, und Heidi wurde wegen krimineller Gefährdung zu ein bis zwei Jahren Arbeitserziehung verurteilt, das hieß, nach einem Jahr mußte entschieden werden, ob sie entlassen wird oder nicht. Das Kind kam zu den Eltern. Heidi kam in eine Zelle mit zwanzig anderen Frauen, Prostituierten, gescheiterten Republikflüchtigen, Alkoholikern. Ein Jahr lang versuchte sie, gut zu arbeiten. Am Tag schaffte sie die Norm, in der Nachtschicht nicht. Ab drei Uhr morgens kämpfte sie mit dem Schlaf, manchmal schlief sie auch ein. Sie war gerade achtzehn. Von den anderen Häftlingen wurde sie gemieden wegen ihres Wohlverhaltens. Die meisten Frauen in der Zelle waren lesbisch. Heidi wollte nicht. Obwohl es streng verboten war, ließen die Frauen sich tätowieren. Heidi nicht. Nach einem Jahr teilte ihr die Anstaltsleitung mit, sie könne noch nicht entlassen werden, weil sie die Norm
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