Flugasche
nicht erfüllt hätte. Es werde überlegt, ob ihr Kind zur Adoption freigegeben werde. Die Eltern schrieben ihr nicht. Heidi wußte nicht, wo ihr Kind war. Kurz darauf erklärte man ihr, das Kind sei nun adoptiert. An dem Tag ließ Heidi sich tätowieren. Sie begann ein Verhältnis mit einer Frau, die, wie Heidi sagte, sehr klug war und sehr lieb. Das zweite Jahr war leichter. Sie freundete sich mit den meisten Frauen an. Nur das Essen war schlecht, manchmal sogar verdorben. In den Karzer mußte sie nie, aber die anderen erzählten davon. Knast im Knast, davor hatte sie Angst. Heidi wurde früher entlassen als ihre Freundin. Sie versprachen sich, später auch draußen zusammen zu leben. Sie sprachen viel von draußen. Trotzdem wäre Heidi lieber drin geblieben bei der Freundin. Sie hatte Angst vor draußen. Die Tochter fand sie bei den Eltern. Das war das einzige, was ihr Mut gemacht hat, sagte sie. Sie bekam Arbeit in dem Konfektionsbetrieb und durfte wieder in ihr Zimmer ziehen bei der alten Frau. Die alte Frau hatte einen Neffen, der Heidi schon lange mochte. Er hatte nur die sechste Klasse und war Kohlenträger. Früher hatte er sich nicht getraut, Heidi anzusprechen. Jetzt wollte er ihr helfen. Aber Heidi wartete auf ihre Freundin. Als die Freundin aus dem Knast kam, hatte sie eine andere. Heidi heiratete den Kohlenträger. Sie verstanden sich gut. Aber mit ihm schlafen konnte sie nicht. Sie sehnte sich nach einer Frau. Frauen seien zärtlicher, sagte sie. Sie hatte sich vorgenommen, zu einem Psychiater zu gehen, um ihre sexuellen Neigungen korrigieren zu lassen. Wenn sie im Sommer baden fuhren, mußten sie sich einen versteckten Platz suchen, oder Heidi mußte trotz Hitze einen Rollkragenpullover tragen. Sie war am ganzen Körper tätowiert. Einmal in der Woche ging sie zu einem Arzt, der die Tätowierungen aus der Haut schliff. Das machte der Arzt ohne Betäubung, es hinterließ Narben, die Brandnarben ähnelten. Sie hatte ein Jahr warten müssen, um als Patientin angenommen zu werden, manche müßten noch länger warten, sagte sie. Obwohl die Leute im Betrieb freundlich zu ihr waren, wollte Heidi an dem Tag kündigen, an dem ihre Arbeitsplatzbindung erloschen war. Sie wollte ein Jahr lang nicht arbeiten. ›Jetzt darf ich das‹, sagte sie, ›jetzt bin ich verheiratet.‹ Ich fragte sie, warum sie, nachdem alles vorbei sei, eine Veröffentlichung ihrer Geschichte zulassen oder sogar wünschen würde. ›Ich will, daß alle Leute wissen, wie schlimm das ist‹, sagte sie. ›Und bevor sie einen reinschicken, sollen sie daran denken, daß drin keiner besser wird. Und vorbei ist das nie.‹«
Brommel wartete, ob Josefa noch etwas hinzufügen wollte, legte den Kopf auf die Rückenlehne seines Sessels, starrte einige Sekunden konzentriert an einen Punkt der Decke, löste sich dann mit einem Ruck aus dieser Haltung und sagte: »Ja, an solchen Geschichten kann man schon etwas begreifen. Ist die Sache gedruckt worden?«
»Ich habe sie nicht geschrieben«, sagte Josefa. »Keine der zuständigen Instanzen war mit einer Veröffentlichung einverstanden.«
»Nun, das ist kein Wunder«, sagte Brommel und zog seinen dicken Katerkopf noch tiefer auf die Schultern. »Aber warum schreiben Sie es nicht trotzdem auf?«
»Vielleicht sollte ich das.«
»Bestimmt sollten Sie«, sagte Brommel. »Man kann reglementieren, welche Geschichten gedruckt werden. Das Schreiben selbst entzieht sich jedem Reglement. Verstehen Sie sich als Dokumentarist, als einer, Verzeihung, als eine, die Dokumente sammelt. Und lassen Sie sich dabei nicht durch die Überlegung stören, wann sie gelesen werden.«
Christian sah von seiner Zeitschrift auf. »Laß sein, Karl, es hat keinen Sinn. Was sie schreibt, will sie auch gedruckt sehen. Alles oder nichts, drunter macht sie es nicht. Frag Josefa, was Taktik ist, und sie wird dir sagen: mit dem Kopf durch die Wand neben der offenen Tür.«
»Wenn über der Tür steht: Durchgang verboten«, sagte Josefa.
»Ja, ist es dann nicht ratsamer, in einem günstigen Augenblick heimlich durch die Tür zu schlüpfen?« fragte Brommel.
»Vielleicht«, sagte Josefa, »aber ich kann nicht zwei Leben führen, ein legales und ein illegales. Ich will nicht den Anspruch aufgeben, mit den anderen leben zu können als die, die ich bin. Ich will nicht den Dialog mit ihnen abbrechen und in die Zukunft emigrieren. Jetzt bin ich das schwarze Schaf, aber ich gehöre zur Herde.«
»Vielleicht gehören Sie auch jetzt nicht
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