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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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sollten Gelegenheit haben, in die Sache einzugreifen, ehe sie in der Parteiversammlung behandelt wurde. Strutzer notierte jedes Wort, das der Leiter des Büros für Bürgerbeschwerden zu ihm gesagt hatte. Er wollte sich zur gegebenen Zeit darauf berufen dürfen. Er zog einen blauen Schnellhefter unter einem Stapel von Aktenpapieren hervor, kontrollierte die Aufschrift, »Vorgang B.« stand in kleiner Schrift auf der Innenseite des Pappumschlags, und legte den weißen Bogen, den er soeben beschrieben hatte, zu den schon abgehefteten. Erst dann nahm Strutzer den brennenden Druck in seinem Magen wahr, sah auf die Uhr – es war vier Minuten vor zwölf – und ging essen.

    Am Tag darauf kam Jauer zum ersten Mal wieder in die Redaktion. Saß am Montag Morgen an Luises kleinem Konferenztisch, umringt von Günter Rassow, Luise, Hans Schütz und Eva Sommer, die ihn unverhohlen neugierig beobachtete. Eva Sommer strich Jauer übers Haar und sagte mit ihrer rauchigen Stimme: Gut siehste aus, Junge, wirklich. Jauer erzählte, wie er zum Zwecke seiner Gesundung mit den Zähnen einen Ring aus einem Topf, der mit Mehl gefüllt war, angeln mußte, während die anderen Mitglieder seiner Gruppe um ihn herumsaßen und lachten, weil er dabei natürlich sehr komisch ausgesehen hätte. Aber die anderen hätten schließlich auch sehr komisch ausgesehen, wenn sie mit den Zähnen den Ring im Mehltopf suchten. So hätte jeder über jeden gelacht, kein bösartiges Lachen, versteht sich, ein befreiendes Lachen eher.
    Josefa war unbehaglich zumute bei dem Gedanken an die mehlbestäubten Kranken. Warum haben sie euch nicht gleich Blindekuh spielen lassen, fragte sie. Sie hatte das Spiel gehaßt, die blinde Bedrängnis, wenn sie stolperte und gestoßen wurde, nicht wußte woher und nicht wußte wohin, die Scham, wenn die anderen, denen man keinen Schal um die Augen gebunden hatte, um sie herumstanden und lachten, wenn sie stürzte.
    Und das hat dir geholfen? fragte sie.
    Wie du siehst, sagte Jauer. In seiner Stimme lag Abwehr. Aber das sei nur ein winziger Teil der Therapie, es gäbe Gruppengespräche und Einzelgespräche, vor allem aber völlige Abgeschiedenheit von allem, das den Menschen sonst umgab. Keinen Kontakt zur Dienststelle, hätte der Arzt gesagt. Dabei sah Jauer mit vorwurfsvollem Stolz von einem zum andern, bis er seinen Blick auf Luise ruhen ließ.
    Na schön, sagte Luise, schön, daß du wieder da bist. Sie steckte sich ein Stück Lakritze in den Mund. Hans Schütz hatte sein Pfeifenetui aus schwarzem Leder auf den Tisch gelegt und säuberte eine Pfeife nach der anderen. Mit kultischer Ruhe schob er den von Plüschfäden umwickelten Draht durch die Öffnung des Mundstücks, setzte das Mundstück wieder auf den Pfeifenkopf, blies ihn noch einmal durch, um auch die letzte Verunreinigung zu beseitigen, betrachtete ausgiebig zum hundertsten oder zum tausendsten Mal den edlen Schwung, den jede seiner Pfeifen im Profil aufwies, und steckte sie wieder in das Etui. »Sag mal, und du kannst nun wirklich wieder schlafen?« fragte er Jauer mit unüberhörbarer Skepsis.
    Jauer lächelte. »Jaja.«
    Es gäbe da überhaupt erstaunliche Geschichten, sagte Günter Rassow. Sein Jugendfreund hätte plötzlich und grundlos kurz nach überstandener Pubertät zu hinken begonnen. Man hätte Muskelschwund vermutet, unheilbar. Kurz und gut, bis der Junge zu einem Psychiater gekommen sei, der einen Ödipuskomplex festgestellt hätte. Die Mutter von Rassows Freund hätte in der fraglichen Zeit häufig den schlurfenden Gang und die schlechte Haltung des Jungen bemängelt. Dadurch hätte sich der Junge, der, wie Rassow sagte, mit außerordentlicher Sensibilität ausgestattet gewesen sei, stark verkrampft, zudem aber, und das sei nach Ansicht des Arztes das krankheitsauslösende Moment gewesen, hätte er unbewußt einen objektiven Grund für seinen Gang gesucht, um sich den mütterlichen Ermahnungen zu entziehen. Der Arzt hätte dem Jungen geraten, sich nicht länger gegen die Liebe und Sorge der Mutter zu wehren.
    Und, hat’s geholfen? fragte Eva Sommer.
    Er hätte tatsächlich aufgehört zu hinken, sagte Rassow. Allerdings hätten sich gleichzeitig absonderliche Veränderungen an seinem Körper vollzogen. Es war Rassow unangenehm, den Vorgang im Detail zu beschreiben, seine Stimme knarrte unter der Anstrengung, die ihm die Suche nach unverfänglichen Formulierungen bereitete. »Gewisse physische Rückentwicklungen waren an ihm zu beobachten, nicht

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