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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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den schlechten Versen besser lebt als er von guten Tischen. Und seinen Spaß läßt sich der Mensch was kosten. Der Tischler wird uns Tische baun, die wir uns jetzt nur träumen. Und dafür darf er kostenlos nach Schweden zu den Möbelbauern fahren und in Erfahrungsaustausch treten. Es bleiben übrig Arbeiten wie meine, die, stoßen sie dem Menschen zu, von gleicher Wirkung sind wie Autoräder, die Menschen überrollen und verstümmeln. Verschont wird nur, was für die Arbeit nötig ist: Geduld und Stumpfsinn und geschickte Finger, am Hintern weiches Fleisch, in Fett gepolstert, auf dem der Rest vom Menschen sitzen kann. Werte Herren, mir sind bekannt die technologischen Fesseln des Jahrhunderts, das mangelnde Geld für Investitionen und die Notwendigkeit solcher Verrichtung. Ich schlage darum vor: Jeder Bürger dieses Landes, ich betone: jeder, trägt an diesem Zustand mit. Ein Jahr seines Lebens oder zwei übernimmt er solche Arbeit für vier Stunden jeden Tag; in der Zeit, die ihm verbleibt, lernt er Sprachen oder Instrumente, um die Sinne zu erhalten und die Zeit zu nutzen. – Ihre Antwort erwarte ich mit Interesse. Von mir hören Sie, sobald ich neue Vorschläge unterbreiten kann. – Josefa Nadler, ungelernte Arbeiterin.
    Josefa las den Brief laut, stellte sich das erstaunte Gesicht seines Empfängers vor und beschloß, ihn abzuschicken, sobald sie drei Monate lang Arbeiterin war. Ab dann würde sie ihnen jeden Monat einen Brief schicken. Ein korrespondierendes Mitglied des Höchsten Rates würde sie werden. Und eines Tages würde sie sich auf den Marktplatz stellen, zwischen die Gemüsekarren, vor denen die meisten Leute anstanden, und würde ihren Briefwechsel mit dem Höchsten Rat dem Volk zur Kenntnis geben.

    Wahrscheinlich wäre in Josefas Leben alles geblieben, wie es war, wäre sie an dem besagten Morgen früher aufgestanden und hätte den Postkastenentleerer nicht verfehlt; sie wäre wieder in den Besitz ihres Briefes an den Höchsten Rat gekommen, vorausgesetzt, der Mann hätte ihr den Brief ausgehändigt, wozu ihn die postalischen Verordnungen nicht unbedingt berechtigten. Josefa setzte voraus, der Mann hätte ein Einsehen gehabt mit ihrer teuflischen Lage und hätte ihr das maschinebeschriebene Kuvert zurückgegeben. Dann hätte die Illustrierte Woche den alltäglichen Streit über eine Reportage schnell vergessen. Kaum einer sprach noch über den Vorfall. Nur Luise sagte zuweilen, es sei ein Jammer, wirklich ein Jammer. Rudi Goldammers Magengeschwür war geheilt, und Strutzer mußte mit verbissenem Lächeln Berge von Zeitschriften und Schreibpapier über den weißen Gang in sein eigenes Zimmer tragen. Josefa schrieb in einem Brief an Alfred Thal: Bitte grüßen Sie den Anarchisten und sagen Sie ihm: Ich kann es nicht ändern. Saß wie immer auf dem schwarzen Kunstlederstuhl hinter dem Schreibtisch, umgeben vom Lärm des Großraums, sah auf Günter Rassows schwächlichen Rücken, telefonierte mit der Bibliothek, telefonierte mit dem Betrieb, in dem sie ihre nächste Reportage recherchieren wollte, vereinbarte Fototermine, entzifferte Leserbriefe, beantwortete sie. Und wartete. Wartete jeden Tag und jede Stunde, daß die Antwort käme auf ihren Brief. Jedes Telefonklingeln erschreckte sie und jeder Briefumschlag, auf dem ihr Name stand. Als Erna, Rudi Goldammers Sekretärin, sie anrief und ihr kurz und herrisch mitteilte – sie sprach mit allen Mitarbeitern der Redaktion kurz und herrisch –, der Chef wolle sie sprechen, zitterten Josefa die Knie. Auf dem Weg in Rudis Zimmer trank sie in der Teeküche ein Glas kaltes Wasser, weil ihr der Mund trocken war wie Watte und bitter, daß es sie würgte. Rudi umarmte sie zur Begrüßung. Es täte ihm so leid, sagte er, jetzt erst hätte er die Sache lesen können. Schade, daß es so dumm gelaufen sei. Dieser Strutzer, na, nicht mehr zu ändern. Immer, aber auch immer kämen die Magengeschwüre zur unrechten Zeit. Aber das müsse sie ihm glauben. Wäre er nicht krank gewesen, die Sache hätte sich anders abgespielt. Rudi litt unter der Mission, die er sich auferlegt hatte, und Josefa litt mit ihm. »Ich weiß«, sagte sie, »ich weiß, wenn du dagewesen wärst …« Rudi lief mit kleinen Schritten im Zimmer auf und ab, sah dabei auf seine Fußspitzen, blieb dann vor Josefa stehen und blickte ihr in die Augen, wohl um zu kontrollieren, wie ernst sie ihre Beteuerung meinte. Auf dem Tisch standen rote Nelken. »Schöne Blumen«, sagte Josefa. »Ja«,

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