Flugasche
Aufruhr in der letzten Zeit gefolgt waren. Lag auf ihrer Barrikade aus Halbdaunen, sah hinter geschlossenen Augen, wie hellrotes Blut durch ihr Herz gepumpt wurde und in feinen Verzweigungen bis in die Spitzen der Finger floß. Der funktionierende Organismus war sie. Sekundenlang durchfuhr sie die Klarsichtigkeit, die sie in jener deutlich zu erinnernden Nacht mit Christian erfahren hatte und der sie seitdem vergebens nachgejagt war. Sah sich in der Mitte ihres Weges vom Geborenwerden zum Sterben, lief ohne Aufenthalt und ohne Umkehr, und die Welt teilte sich in den eigenen Schmerz und den der anderen, in eigne Verzweiflung und andre Verzweiflung, in eigne Freude und fremde Freude. Nur was sich in ihr bündelte, was sie betraf, was aus ihr kam, war am Ende ihr Leben.
Josefa dachte an ihre Zukunft. Denk doch an deine Zukunft, Kind, war einer von Idas Lieblingssätzen. Inzwischen hielt Ida die Zukunft ihrer einzigen Nichte für gesichert, und bestimmt würden ihre hellblauen Augen sich mit klaren Tränen füllen, wenn sie hörte, wie leichtfertig Josefa ihre Zukunft verlassen hatte.
Ein Wecker, der um halb fünf klingelt, und im nächsten Jahr kommt der Sohn in die Schule. Um halb sechs muß sie aus dem Haus, um halb sieben muß der Sohn aufstehen, um halb acht muß er gehen, vorher allein frühstücken. Sie wird die anderen fragen müssen, wie man das macht. Nachmittags um drei kommt sie wieder nach Hause, das ist ein Vorteil, aber abends wird sie hundemüde sein, und wenn sie nicht ab acht oder neun schläft, wird sie morgens, wenn sie aufsteht, heulen vor Anstrengung. Im Betrieb wird man sie zuerst belächeln, eine mit’m Spleen, die studiert hat, aber das wird sich geben. Später werden sie feststellen, die hat Haare auf’n Zähnen und läßt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, und irgendwer wird sie für eine Gewerkschaftsfunktion vorschlagen, wahrscheinlich für den Kulturobmann, damit sie Karten besorgt für die Operette. Wenn es noch schlimmer kommt, schickt man sie auf einen Lehrgang und macht sie zum Vertrauensmann. Aber dagegen wird sie sich wehren. Das wird die Strafe sein: ab heute muß man auf sie verzichten. Sie wird sich qualifizieren, aber mehr nicht. Hin und wieder wird sie einen Brief schreiben an den Höchsten Rat, wird ihn aufmerksam machen auf die Versäumnisse beim sozialistischen Aufbau, und niemand wird sie dafür zur Rechenschaft ziehen dürfen. Werte Herren, wird sie schreiben, meine Arbeit ist sehr eintönig und läßt mir viel Zeit für Gedanken. So habe ich darüber nachgedacht, warum meine Leistung, wie man der Summe des mir monatlich ausgezahlten Geldes entnehmen kann, als so gering im Vergleich mit anderen Leistungen eingeschätzt wird. Ich versichere Ihnen … Josefa stand auf, holte aus einem Fach ihres Regals Schreibpapier, suchte ihren Kugelschreiber, fand ihn nicht, nahm dafür die Schreibmaschine, setzte sich ins Bett und stellte die Maschine auf die Oberschenkel. Sie spannte das Papier ein, ohne Durchschlag, sie schrieb immer ohne Durchschlag, zu Luises Ärger, und schrieb: Ich versichere Ihnen, daß jahrelanges Sitzen, Stieren mit den Augen auf millimetergroße Teilchen, die mit ruhiger Hand gelötet werden müssen, eine verzehrende Leistung ist gegen die eigene Natur. Mehr zu leisten als das wäre ich nicht imstande. Ebenso meine Kolleginnen. Kein Arzt und kein Künstler wird gezwungen, seine Natur zu verleugnen wie wir. Doch schlägt die Leistung nicht zu Buche. Ähnliches gilt für andre Berufe, Putzfrau und Fäkalienfahrer, Straßenkehrer, Boten, Fischverkäufer. Kein Funktionär ist schwerer ersetzbar als die Toilettenfrau am Alexanderplatz. Dieser Gestank den ganzen Tag, und trotzdem sprechen Sie von leichter Arbeit. Ich, ungelernte Löterin Josefa Nadler, schlage vor: Für jede Arbeit gibt es gleichen Lohn, den Unterschied allein macht schlecht und gut. Für schlechte Arbeit gibt es wenig Lohn, für gute Arbeit gibt es mehr, gleich, ob es Mann ist oder Frau, Minister oder Postbriefträger. Wer Kinder hat, bekommt entsprechend mehr. Für Schichtarbeiter, Bergleute und andere Berufe, die den Menschen fressen, gilt kürzere Arbeitszeit und längerer Urlaub, weil keiner sonst die Arbeit macht. Werte Herren, schrieb Josefa weiter, ich verspreche mir davon: Wer gerne hobelt, wird dann Tischler und nicht Dichter von Kinderliedern oder Lesebüchern, weil ihm kein Vorteil winkt für den Verzicht auf Freude und er nicht grimmig auf das neue Haus des Dichters starrt, der von
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