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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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offensichtliche, doch aber folgenschwere. Selbst die Stimme klang vorübergehend wieder hell und kindlich.« Rassow räusperte sich und beendete seine Erzählung durch ein tiefstimmiges »Ja«.
    Eva Sommer lachte. »Besser als hinken.«
    »Wer weiß«, sagte Hans Schütz.
    Josefa sah in die Gesichter der anderen, um zu ergründen, ob alle dachten, was sie dachte, daß nämlich Rassow selbst jener außerordentlich sensible Jugendfreund sein könnte. Hans Schütz konzentrierte sich auf den Genuß seiner Pfeife, die endlich gereinigt und gestopft zwischen seinen Zähnen steckte. Luise, die ohnehin nichts von Psychiatern und ähnlichem Seelenhumbug hielt, kaute Lakritze. Nur Eva Sommer hing gebannt Rassows Geschichte nach.
    »Jauer hat seinen Ödipuskomplex bestimmt von Luise«, sagte Josefa.
    Jauer verfärbte sich. Man solle das ruhig ernst nehmen, sagte er, und seine Stimme zitterte, er fühle sich jetzt jedenfalls so wohl wie noch nie in seinem Leben, das wolle er sich durch albernes Geschwätz nicht kaputtmachen lassen, und er sähe in der Angelegenheit keinen Gegenstand für Scherze, aus denen nur Ignoranz spräche.
    Josefa war bestürzt. Sie hatte mit ihrer Bemerkung eher Luise treffen wollen als Jauer. Sie hatte ihn in den letzten Wochen oft vermißt, und nur das strikte Verbot des Arztes hatte sie davon abgehalten, ihn zu besuchen. Sie stotterte eine Entschuldigung, und Jauer, dem seine Heftigkeit nachträglich wohl unangenehm war, brummte etwas wie »schon gut«. Hans Schütz setzte sich als erster über die beklommene Stille hinweg. »Dicker bist du geworden«, sagte er, nachdem er Jauer lange gemustert hatte. Auch Josefa war aufgefallen, daß Jauers Gesicht sich verändert hatte. Die konkaven Wölbungen hatten sich gefüllt, wodurch das Gesicht zu einem ebenmäßigen Oval geformt wurde. Die gelbliche, Krankheit assoziierende Hautfarbe und die zartrosa Flecken auf den Backenknochen waren verschwunden. Die Haut war heller, die Wangen gleichmäßig gerötet. Am auffälligsten aber war der andere Ausdruck seiner Augen, den Josefa nicht genau bezeichnen konnte, aber das ewig Wunde, das ein für allemal Verletzte konnte sie in ihnen nicht mehr finden.
    Als Jauer sich die Haare aus der Stirn strich, bemerkte sie die zarte rote Linie, die quer über seine Stirn lief und links und rechts im Haaransatz endete. Josefa konnte sich an den roten Strich auf Jauers Stirn nicht erinnern. Sie wußte nicht, ob sie ihn früher nur nicht bemerkt oder ob es ihn nicht gegeben hatte. Eine feine rote Kerbe, wie der Abdruck eines Mützenrandes, oder wie ein Kratzer, oder wie eine Narbe, eine ungewöhnlich kunstvolle Narbe. Vielleicht eine Verletzung aus der Kindheit, dachte Josefa, ein Sturz mit dem Roller oder die Kellertreppe hinunter. Sicher wird der rote Strich schon immer über Jauers Stirn gelaufen sein, und sie hatte ihn eben nicht gesehen.
    »Ich rauche nicht mehr«, sagte Jauer.
    Plötzlich schien es Josefa, als hätte sich auch Jauers Stimme verändert, als spräche er lauter, fester, als wären die Stimmbänder nun endgültig zu seinen eigenen geworden. Überhaupt, stellte Josefa fest, wirkte Jauer nicht mehr provisorisch. Sie erklärte sich Jauers Veränderungen durch die gerade verwundene Krankheit und durch die Abgeschiedenheit, in der er drei Monate gelebt hatte. Selbst als er drei Tage später seine alte gelbe Lederjacke mit den Schweißrändern am Kragen, die ihm vor zehn oder mehr Jahren seine Mutter geschenkt hatte, vertauschte gegen eine sakkoähnliche Wildlederjacke, unter der er helle Hemden mit farblich abgestimmten Krawatten trug, ahnte Josefa nicht, wie tief Jauers Verwandlung reichte. Das sollte sie erst später erfahren, als das Schreiben des Höchsten Rates an Strutzer längst durch einen Boten überbracht worden war und als »diese ungeheuerliche Anmaßung der Genossin Nadler«, wie Strutzer die Angelegenheit nannte, als einziger Punkt der Tagesordnung in der Parteiversammlung behandelt wurde.

    Josefa nahm den Hörer erst nach dem dritten Läuten ab, obwohl sie das Telefon dicht neben das Bett gestellt hatte. Niemand sollte denken, sie säße neben dem Telefon und wartete darauf, daß man sie vermißte.
    »Warum bist du nicht in der Redaktion?« fragte Christian.
    »Bist du krank?«
    »Nein.«
    »Was sonst?«
    »Nichts.«
    »Ich denke, heute ist deine Verhandlung.«
    »Ja.«
    »Mein Gott, nun red doch schon. Ist was passiert?«
    »Es ist nichts passiert. Ich geh nicht hin.«
    Schweigen.
    »Josefa, es muß

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