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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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doch irgendwas passiert sein …«
    »Nein.«
    Schweigen.
    »Ich konnte in den letzten Tagen nicht anrufen. Ich hatte viel zu tun, außerdem mußte ich die Thesen ändern.«
    »Jaja.«
    »Bitte, sei nicht kindisch. Was machst du denn jetzt?«
    »Ich liege im Bett.«
    Schweigen.
    »Soll ich zu dir kommen?«
    »Nein.«
    Schweigen.
    Josefa drückte mit zwei Fingern die beiden weißen Plastikteile in das schwarze Gehäuse des Telefons, legte dann erst den Hörer darüber. Trank einen Schluck Rotwein, um den würgenden Druck in ihrem Hals zu verschlucken. Zog sich das Kopfkissen über das Gesicht, als wäre jemand in der Nähe, der nicht hören dürfte, wie sie laut und haltlos weinte.
    Eine Woche hatte sie auf diesen Anruf gewartet. Seit diesem qualvollen Mittwoch, an dem sie Christian zum letzten Mal gesehen hatte. Jeden Tag hatte sie ihn selbst anrufen wollen oder einfach hinfahren, klingeln, wie damals vor zwei Monaten oder vor neunzehnhundertsiebenundsiebzig Jahren. An jedem Tag seit dem Mittwoch, an dem er gegangen war, nachdem sie zwei Stunden geschwiegen hatten, wollte sie den Irrtum der letzten Wochen korrigieren. Und jetzt war es zu spät. Oder es war schon am Mittwoch zu spät gewesen, als es ihr schien, sie säßen in einem Zug, der unaufhaltsam dorthin raste, wo die Schienen endeten. Das Ende als einziges Ziel. Der Zug fuhr und fuhr. Sie würden erst aussteigen können, wenn er kopfüber im Sand steckte. Auf das Unglück warten, und jeder Versuch, die Notbremse zu ziehen, beschleunigte das Tempo. Seit einer Woche grübelte sie, was geschehen war, daß sie so sprachlos einander gegenübersaßen.
    Tag für Tag hatte sie erinnert, Szenen angesehen, in denen sie mitgewirkt hatte und deren bestürztes Publikum sie nun war. Warum hatte sie nichts verstanden? Sie hörte Sätze, die sie gesagt hatte, begriff nachträglich, hörte Christians Sätze, die sie nie gehört hatte und die doch gesagt worden waren. Doch, gehört hatte sie, gehört und nicht wahrgenommen, nicht übersetzt in Erfahrung. In dem, was ihnen zugestoßen war und was geendet in zweistündigem Schweigen am Mittwoch, fand sie die gleiche Folgerichtigkeit, die alles und jeden in den letzten Wochen bestimmt hatte.
    Christian litt unter Josefas Depressionen, für die er keine ausreichende Erklärung fand. Wenn er auch ihre Erregung verstand angesichts der Unannehmlichkeiten, die sie unausweichlich erwarteten, befremdete ihn doch die Angst, fast Panik, mit der sie den Ereignissen begegnete. Ihr Brief an den Höchsten Rat war einfach lächerlich. Josefas Naivität, infantiler Unberechenbarkeit oft bedrohlich nahe, hatte ihn schon früher amüsiert oder geärgert, je nach dem Grad der Ignoranz, den er darin wahrnahm. Gut, es bedurfte keiner ausgeprägten Sensibilität, um von einer Stadt wie B. bis ins Mark erschüttert zu werden. Josefa war sensibel. Und als sie heulend und Gulaschsuppe löffelnd Schauergeschichten erzählt hatte, als hätte sie gerade eben die Hölle besichtigt, hatte er sie verstanden. Aber dieser Brief war kindisch. »Sag einfach, es tut dir leid«, riet er ihr, als Josefa ihm die Einladung für die Sitzung der Parteileitung zeigte und ihm zum ersten Mal von dem Brief erzählte, »sag, du weißt, der Brief ist idiotisch, sag, du warst betrunken oder du hattest Fieber. Und dann ist es gut.«
    Josefa hatte sich einen Stuhl an den Ofen gestellt, ließ sich den Rücken und die Hände von den heißen Kacheln wärmen und zitterte. »Warum ist der Brief idiotisch? Es stimmt doch alles.« Sie riß sich mit den Zähnen die Hautfetzen von der Unterlippe.
    Christian stöhnte: »Aber du kannst es doch nicht einer ganzen Regierung schriftlich geben, daß du sie für dumm hältst.«
    Josefa sah ihn verzweifelt an. »Ich habe doch nur geschrieben, was ich gesehen habe und was sie vielleicht nicht gesehen haben. Warum verstehst du mich denn nicht mal?«
    »Josefa«, Christian zählte die Silben ihres Namens auf wie ein Startkommando, »es gibt gewisse Gepflogenheiten, Normen im menschlichen Zusammenleben, die ein Erwachsener für gewöhnlich kennt. Die können dir gefallen, die können dir auch nicht gefallen, aber zur Kenntnis nehmen mußt du sie schon, wenn du irgend etwas ausrichten willst. Glaubst du denn im Ernst, jemand brauchte deinen Brief, um zu wissen, wie es in B. aussieht? Das stinkt doch weit genug …«
    Josefa verzog schmerzlich das Gesicht. »Halt mir keine Rede«, sagte sie, »ich verstehe sowieso nicht.«
    »Was ist denn daran nicht

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