Flugasche
werden. Er bedaure zutiefst, versicherte er, und er wolle danken, und er werde vermissen … Er überreichte Luise zwanzig rote Nelken, die Erna besorgt hatte, und griff mit dicken weißen Fingern nach Luises herabhängender Hand. Die Wahrheit war, daß Luise nach jeder Leitungssitzung Kreislauftropfen in ihr Teeglas gezählt hatte, weil sie sich bis zur Erschöpfung mit Strutzer gestritten oder sich über ihn geärgert hatte.
»Hör mal, viel Gutes haste nicht zu erwarten«, sagte Luise. Sie zählte die sieben Leitungsmitglieder an den Fingern ab, die vermutlichen Gegenstimmen an der rechten Hand, die Verteidiger an der linken. Die fünf Finger ihrer Rechten reichten nicht aus, links ragte nur der Zeigefinger aus der Faust. »Hans Schütz. Aber auch nur, wenn du Glück hast. Wenn du Pech hast, kaut er auf seiner Pfeife rum und sagt gar nichts.«
»Und Günter?« fragte Josefa.
Luise schüttelte den Kopf. »Ich habe mit ihm gesprochen«, sagte sie, »wenn er nicht gerade einen cholerischen Anfall kriegt und losdonnert ohne Sinn und Verstand, wird er brav seinen Arm heben. Außerdem geht ihm dein Brief gegen seinen Ordnungssinn. Er hat also sogar eine Rechtfertigung.«
Josefa beobachtete, wie Luises spitze Nase Löcher in die Luft hackte. Zum ersten Mal war sie Luise nicht dankbar für ihre Rechenkünste, für ihren praktischen Geschäftssinn, mit dem sie Kräfteverhältnisse abwog wie grüne Heringe, Antworten kalkulierte wie Preise, sorgfältig berechnet nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Zum ersten Mal auch schien ihr, es handele sich dabei für ihre Zwecke um gänzlich untaugliche Mittel. Die letzten Wochen hatten ihre Absichten und Ziele auf ein Minimum schrumpfen lassen: Sie wollte richtig verstanden werden. Was konnten ihr dabei Luises Tara-, Brutto- und Nettoberechnungen helfen. Satz in dieser Verpackung wiegt leicht, Satz in jener Verpackung wiegt schwer, gleicher Satz im Briefumschlag wiegt am schwersten. Sie wollte richtig verstanden werden, nicht mehr. Allein die Absicht verbot jede Taktik, schon der Versuch, sich auf halbe Wahrheiten zu beschränken, hieße das Ziel preisgeben, auf den Erfolg von vornherein verzichten.
Luise rechnete noch immer, obwohl sie das Ergebnis schon vorweggenommen hatte. Das mindeste sei, hatte sie gesagt, Josefa dürfe nicht widersprechen, müsse sich die Vorwürfe anhören und wenigstens die Spur von Reue zeigen.
Das hatte sie schon Christian versprochen.
Einige Stunden später, eingebettet im nachmittäglichen Dämmerlicht des Vorfrühlings, umgeben von je drei Leitungsmitgliedern an den beiden Längsseiten des Tisches, gegenüber von Strutzer, der ihr die unbesetzte Querseite am unteren Ende des Tisches zugewiesen, sich selbst an die obere Querseite gesetzt hatte, war Josefa sicher, jedes Wort, das gesprochen wurde, schon gehört zu haben und den weiteren Hergang der Verhandlung im Detail zu kennen.
Strutzer las den Brief vor. Sätze, die er für besonders problematisch hielt, bezeichnete er durch ironischen Vortrag und anschließende Pause, während der er die Leitungsmitglieder wissend musterte und sie durch ein Lächeln des Einverständnisses zu Reaktionen ermunterte. »… scheint es mir zuweilen, die Stille, die um Sie verbreitet wird durch vorausfahrende Kräder, durch emsige Vorbereitungen Ihrer Besuche, durch falsche Berichte, hindert Sie, die Dinge zu erkennen, wie sie sind«, las Strutzer. Zu jeder Silbe ein Klopfen mit dem Bleistift. Ulrike Kuwiak zischte, das sei wirklich unverschämt, Elli Meseke sah Josefa vorwurfsvoll an, sagte: »Aber Mädel, wie kannst du nur so etwas behaupten.« Strutzer las weiter.
Es müssen zwei Briefe sein, dachte Josefa. Sie hatte einen Brief geschrieben, hatte die lange Adresse auf den Umschlag gehämmert, hatte ihn in den gelben Kasten gesteckt, aber ein anderer Brief hatte den Adressaten erreicht. Postkästen, Postsäcke, Sortierungen, Eingangskästen, Amtsaugen und Amtshirne hatten ihren Brief in eine zynische Beschimpfung verwandelt. Rätselhafte Metamorphose der Sprache auf dem Weg aus ihrer Wohnung in ein Amt, durch das Amt, in Strutzers weiße Finger, in Strutzers Mund, in Josefas Ohren, nicht mehr erkennbar als ihre Worte, zynisch, eitel, das hatte sie nicht geschrieben, nicht so.
»Darf ich den Brief selbst vorlesen?« fragte sie.
»Aber bitte.« Strutzers roter Mund lächelte. Er reichte den Brief an Elli Meseke, die ihn weitergab an Ulrike Kuwiak mit einem widerwilligen Blick auf das Papier wie auf ein
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