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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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ekliges Tier, dessen Anblick sie fürchtete und das sie doch gesehen haben wollte. Ulrike Kuwiak schob den Brief zu Josefa. Kein Zweifel, das war ihr Brief; das Papier, das versetzte kleine e, das ihre Schreibmaschine immer einen Millimeter zu hoch anschlug. Das Papier zitterte leicht in ihrer Hand, sie legte es auf den Tisch, wiederholte noch einmal den Satz, nach dem sie Strutzer unterbrochen hatte: »… die Stille, die um Sie verbreitet wird durch vorausfahrende Kräder, durch emsige Vorbereitung Ihrer Besuche, durch falsche Berichte, hindert Sie, die Dinge zu erkennen, wie sie sind.« Sie las leise, atemlos, ohne ein Wort stärker zu betonen als ein anderes, Punkt und Komma kaum beachtend. So klangen ihr die Sätze wieder vertraut, erkannte sie den Gedanken, der ihnen vorausgegangen war. Sie warf einen schnellen Blick in die Gesichter der anderen. Hans Schütz lächelte auf dem rechten, Josefa zugewandten Mundwinkel. Günter Rassow hielt den Kopf gesenkt, das Gesicht verdeckt durch die Hände, die er wie Scheuklappen an die Schläfen hielt. Die Gesichter der anderen unverändert zwischen Mitleid und demonstrativem Unverständnis. »Da es mir unmöglich gemacht wird«, las Josefa weiter, »meiner beruflichen Verpflichtung nachzukommen und die Öffentlichkeit auf dringend notwendige Veränderungen hinzuweisen, mußte ich diesen Weg wählen, um Sie über die Zustände in B. zu unterrichten. Ich bitte Sie, den Vorgang zu überprüfen und Ihre Entscheidung zu ändern.« Und obwohl sie die Sprache als ihre eigene tägliche erkannte, fiel sie, reflektiert von den kalkigen Wänden und von den betroffenen Gesichtern, als fremde Sprache auf sie zurück. Sie hörte die Worte mit den Ohren der anderen, vollzog deren Gedanken und empfand wie einen Schlag die Anmaßung, die in dem Brief verborgen war und die sich offenbarte, sobald sie auf gehorsame Seelen traf. Jetzt endlich, da sie Absender und Empfänger in einer Person war, begriff sie die zweite Existenz ihres Briefes. Der ungehörige, arrogante, ja gefährliche, nicht zu duldende Anspruch des Schreibers trat ihr fremd gegenüber und verdrängte ihr besseres Wissen um die eigene Absicht.
    »Wollen wir doch mal hören, was uns die Genossin Nadler selbst zu ihrem Brief zu erklären hat«, sagte Strutzer.
    Das Aufatmen der anderen war eher sichtbar als hörbar, die Spannung schwand aus den Rücken und Schultern; Hände, die sich an Kugelschreibern festhielten, entkrampften sich.
    Josefa war heiß. Und wenn sie nun alle recht hatten, wenn solch ein Brief tatsächlich staatsfeindlich war? Hatte sie sich vielleicht wirklich eine Rolle zugedacht, die ihr nicht zustand? Hatte sie nicht behauptet, mehr zu wissen über B. als alle Institutionen und alle zuständigen Genossen? Sie starrte auf den Brief, der immer noch vor ihr lag. »Werte Genossen«, die Buchstaben verschoben sich ineinander, »Wertossen« zitterte es vor ihren Augen, Tränen, nicht den Kopf heben, schlucken.
    »Bitte, Josefa, du hast das Wort«, sagte Strutzer.
    Josefa versuchte, den Mund zu öffnen. Die Lippen klebten fest aufeinander, ließen sich nicht voneinander lösen. Wenigstens sagen, daß sie es so nicht gemeint hatte. Die Zunge zwischen die Lippen schieben, bis sie sich öffneten. Die Zunge war geschwollen und trocken. Ihr Mund war gelähmt. Sprachlos.
    »Aus dem Schweigen der Genossin Nadler muß ich schließen, daß sie uns nichts mitzuteilen hat«, sagte Strutzer, »bedauerlich. Dann bitte ich jetzt die anderen Genossen um ihre Wortmeldungen.«
    Das kannte sie. So war es schon einmal gewesen. Auch zwischen kalkweißen Wänden. Aber da hatte es noch eine andere Farbe gegeben. Grün. Grüne Tücher, die man über sie gedeckt hatte wie Fahnentuch über den Sarg bei einem Staatsbegräbnis. Und eine Stimme voll geübter Barmherzigkeit: »Nicht ängstlich sein, das ist nichts Schlimmes, das kann heut schon unser Pförtner.« Nicht schlimm. Trotzdem die ledernen Fesseln an den Handgelenken, die schwarze Gummimaske über Mund und Nase, »tief atmen, das ist Sauerstoff«. Die Injektion in den linken Arm. Letzter Gedanke: Ich wache nie mehr auf. Und dann doch. Langsames Erwachen. Kaltes Kneifen in ihrem Bauch. Erkennen, schrecklos. Jemand schnitt ihr in den Bauch, und sie war wach. Gleich, gleich kommt der große Schmerz. Sie will stöhnen. Strengt sich an. Kein Laut. Die Augen öffnen. Nur einen Millimeter. Nur ein Auge. Geht nicht. Nichts geht. Kein Finger. Gleich kommt der Schmerz. Und ich eine lebende

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