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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Leiche. Sprachlos. Reglos. Bei lebendigem Verstand seziert werden. Abgeschaltet wie eine Waschmaschine. Weiß, was mit ihr geschieht. Weiß, was sie tun müßte, um sich zu retten. Kann nur noch wissen. Tot. Aber nicht tot. Verurteilt zum Dulden. Sie gehört denen. Denen mit den Messern. Dann eine Männerstimme: »Die ist noch ganz schön munter, gebt ihr mal noch hundertfünfzig.« Dann nichts mehr. Später hatten sie ihr erklärt, daß die Muskulatur während der Operation lahmgelegt wurde. Ihre Muskulatur hätte noch reagiert, das hätten sie bemerkt. – Du bist zu lebendig, du fühlst noch.
    Elli Meseke meldete sich, erhobener Unterarm, gerade ausgestreckter Zeigefinger. Sie hätte nur eine Frage an Josefa: Warum sei sie mit ihren Problemen nicht zu ihnen gekommen, zu ihren Genossen?
    Wiederum Aufatmen der anderen. Das Wort hatte Josefa. Warum sie nicht gekommen war. Warum nicht? Aber sie hatte ja mit ihnen reden wollen. Sie hatte ihnen alles aufgeschrieben, alles über B. Strutzer hatte es gelesen, Rudi, der zuständige Genosse. Das wußten sie doch. Warum fragte die Dicke das?
    Über Günter Rassows mageren Rücken lief ein Zucken, lief in den Arm, der sich langsam hob, komisch, daß er nicht knarrte, bewegte sich störrisch wie ein verrostetes Scharnier. Aber das quietscht und knarrt nicht. Der Arm quietschte auch nicht. Ihn beschäftige eine andere Frage, sagte Günter. Schon wieder eine Frage. Warum merkten sie nicht, daß ihr doch keine Antwort einfallen würde. Eine Frage, sagte Günter, die ihm noch schwerwiegender erschiene. »Wie konnte es geschehen, daß eine Genossin, die wir jeden Tag sehen, mit der wir arbeiten, sich mit Sorgen und Problemen herumträgt, die sie letztlich zu dieser Verzweiflungstat treiben, ohne daß wir davon Kenntnis nehmen? Ja, für mich ist dieser Brief eine Verzweiflungstat. Und ich frage euch, wie konnte es mit Josefa dahin kommen? Was haben wir versäumt?«
    Gott sei Dank, er fragte nicht sie. Aber er war verrückt. Verzweiflungstat. Als hätte sie tatsächlich eine Bombe geschmissen. Oder einen Mord begangen. Günter zwinkerte ihr zu. Josefa verstand nicht. Oder glaubte er, er hätte ihr eben geholfen? Er hatte nicht sie gefragt, mehr nicht. Sie müßte etwas sagen. Keine Verzweiflungstat, staatsbürgerliches Recht, Beschwerdegesetz und das alles. Aber ihr Mund war verklebt. Die Zunge hing fest am Gaumen. Darum tranken aufgeregte Menschen im Film immer Wasser. Aber hier war kein Wasser, und darum bitten ging nicht. Würden sie denken, sie spielt Theater. Jetzt hatte Strutzer Günters Schwenk vollzogen. Hob den Bleistift, atmete tief ein. Sosehr er die selbstkritische Haltung des Genossen Rassow auch schätzte, aber da hätte man sich nichts vorzuwerfen. Er selbst hätte lange und intensiv mit der Genossin Nadler diskutiert. Sogar der zuständige Genosse hätte sich bemüht. Aber die Genossin hätte sich unbelehrbar gezeigt. Obendrein sei ihre Arroganz auch dem zuständigen Genossen unangenehm aufgefallen.
    Also doch. Das hätte sie fast vergessen. Ihre Vertrauensseligkeit beim zuständigen Genossen. Hatte er ihre Beschimpfungen gegen Strutzer also doch weitergegeben. Oder Strutzer log. Josefa suchte in seinem Gesicht die Kränkung. Nur das Königslächeln spielte um den geschwungenen Mund. Die Augen verborgen hinter getönten Brillengläsern. Fette Qualle hatte sie gesagt. Josefa glaubte nicht, daß der zuständige Genosse Worte wie diese wiederholt hatte. Aber er konnte Strutzer mitgeteilt haben, wie sein Eindruck von der Genossin im allgemeinen ausgefallen war. Arrogant also, na gut.
    Strutzer schwieg. Sah abwartend in die Runde, vermied dabei die Richtung, in der Hans Schütz saß. Schütz als nächster Redner wäre ihm nicht recht gewesen. Durch die breite Fensterfront sah Josefa in den Himmel, in weiße und graue Wolkenberge, die sich stetig und ohne Hast ineinanderschoben zu neuen Gebilden, um sich ebenso gemächlich wieder aufzulösen. Ein kalter Himmel, durch keine irdische Verbindlichkeit erwärmt, kein Ast, kein Häuserdach reichte in diese Höhe, in der Josefas Augen den Himmel zu fassen kriegten. Zog endlos über sie hinweg, wie über die vorigen, wie über die nächsten. War einfach da. Einfach da. Der Gedanke breitete sich in ihr aus, warm und überraschend, plötzlich, als hätte sie es nicht schon immer gewußt. Oder doch wissen müssen. Der unteilbare Himmel, nein, doch teilbar, Hoheitsgebiete, das Wort gab es, aber die Wolken zogen flugverkehrswidrig, nur

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