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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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noch einmal zusammen, was Gerhard Wenzel gesagt hat: Deine Arroganz ist nicht nur dem zuständigen Genossen aufgefallen. Selbst Gerhard, der ja noch nicht lange bei uns ist, hat sich über deine Uneinsichtigkeit, er sagte Selbstherrlichkeit, schon oft gewundert. Es war auch von deiner Arbeitsdisziplin die Rede, nicht wahr, Gerhard?«
    Gerhard Wenzel nickte. Die tiefen Falten, die seine Stirn in drei querlaufende Wülste unterteilten und die Wenzels Gesicht immer den Ausdruck außerordentlicher Anstrengung verliehen, rückten noch enger aneinander. »Mal so, Genossen, ich will ja hier niemand anschwärzen, aber bei uns, in der Betriebszeitung, hätten wir das nicht machen können, jeden Morgen zu spät kommen oder ’ne Stunde früher gehen. Die Kollegen in der Halle haben da ganz schön aufgepaßt. Wär ja auch ungerecht gewesen gegen die andern. Noch was: In dem Brief steht, wenn ich das richtig verstanden habe, ein Arbeiter aus B. sollte diesen Brief schreiben, mir fällt jetzt der Name nicht ein, aber ihr wißt schon, der jetzt tot ist. Also, ich weiß nicht, ihr könnt mir glauben, ich kenne die Arbeiter, ich war vier Jahre bei der Betriebszeitung, aber so was Selbstherrliches hätte ein Arbeiter nie geschrieben, schon gar nicht ohne sein Kollektiv.«
    »Es ist eigenartig, Josefa«, sagte Elli Meseke, »du schreibst so viel Gutes über die Arbeiter. Ist dir noch nie eingefallen, von ihnen vielleicht auch einiges zu lernen, zum Beispiel Disziplin, zum Beispiel Bescheidenheit?«
    Das Rauschen in Josefas Ohren wurde stärker. Der Himmel, unbeeinträchtigt von ihren Wünschen, verdunkelte sich zu einem friedlichen Abend. Günter Rassow stand leise auf und schaltete das Licht ein, das bläulichweiß in den Neonröhren zuckte, ehe es grell und erbarmungslos die letzte Milde zerriß, die über der Runde gelegen hatte. Hans Schütz blinzelte, als sei er aus einem Traum erwacht, und putzte seine Brille, durch die er jetzt, in der Helligkeit, nicht sehen konnte. »Wäre es nicht ratsam«, sagte er, »doch über den Punkt zu sprechen, der zur Diskussion gestellt wurde? Josefa wurde ja wohl nicht wegen ihrer mangelnden Arbeitsdisziplin vor die Leitung geladen, sondern wegen des Briefes, der, wie ich zugeben muß, reichlich naiv ist.«
    »Unter naiv versteh ich aber was anderes«, sagte Ulrike Kuwiak.
    »Das muß ja nichts heißen. In meinen Augen zeugt der Brief viel eher von Naivität als von Bösartigkeit.«
    »Vielleicht solltest du uns dann erklären, Hans, was du unter Naivität verstehst«, sagte Elli Meseke und lächelte versöhnlich.
    Hans Schütz nahm zum ersten Mal, seit er sich an dem Gespräch beteiligte, die Pfeife aus dem Mund und setzte sich gerade auf. »Unter Naivität verstehe ich genau das, was das Wort laut Meyers Lexikon bedeutet, aber ich kann es hier gern, falls nötig, für einige Leute noch einmal erklären …«
    Strutzer klopfte mit dem Bleistift hart auf die Tischplatte. »Genossen, ich muß wirklich bitten, diese Streitereien zu lassen. Unsere Zeit ist kostbar, denkt an Lenin, Ökonomie der Zeit. Der Gegenstand ist auch zu ernst für solches Geplänkel. Also bitte, zum Thema.«
    Elli Meseke gab Strutzer zu verstehen, daß sie etwas zu sagen hätte. Strutzer erteilte ihr das Wort.
    Elli glättete ihr rosiges Gesicht mit einem Seufzer und faltete die Hände. »Ja, Genossen, wie sage ich das jetzt am besten. Also, ich glaube nicht, daß der Hans recht hat. Ich glaube, daß der Brief mit Josefas Einstellung zu ihren Kollegen und auch zur Disziplin doch zu tun hat. Ob wir das nun selbstherrlich nennen wie der Gerhard oder arrogant wie der zuständige Genosse – es ist letztendlich das gleiche, was uns bedenklich stimmt. Und wenn wir Josefa helfen wollen, und dazu sitzen wir schließlich hier, können wir uns vor dieser Frage nicht drücken. Weißt du, Josefa, nimm das jetzt bitte nicht persönlich, sondern betrachte das, was ich dir sagen werde, als wohlmeinende Kritik: aber wenn ich dich morgens, eine halbe Stunde nach Arbeitsbeginn, mit Stiefeln und Cape und hocherhobenem Haupt durch den Gang fegen sehe, frage ich mich oft: Junge, Junge, wo nimmt das Mädchen bloß das Selbstbewußtsein her?«
    »Genau«, sagte Ulrike Kuwiak und kicherte leise. Gerhard Wenzel nickte zufrieden. »Das Bild trifft den Nagel auf den Kopf, wie man zu sagen pflegt«, sagte er. Die Sekretärin der Leserbriefabteilung, die nie etwas sagte, saß blaß und mager auf ihrem Stuhl und lächelte. Plötzlich hob sie zögernd

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