Flugrausch
verlassen, und genau in diesem Augenblick hatte Tessas Handy geklingelt und die Telefonzentrale beim Progress hatte ihr von den Morden berichtet.
»Tee?«
Tatsächlich wollte Tessa nichts lieber als das. »Danke. Dünn, ohne Milch.«
Nach der Zeitschaltuhr am Elektroherd war es eins. Ein grauhaariger Mann kam in die Küche geschlurft, sah sie verwundert an, warf seiner Frau einen leicht zornigen Blick zu und fragte mürrisch: »Was gibts zu essen?«
Die Frau, die in einem Hängeschrank nach den Teebeuteln griff, warf Tessa einen Blick zu und wandte sich an ihren Mann. »Wasser«, sagte sie und wies auf den Wasserhahn in der Spüle.
Dann auf den Brotkorb: »Weißbrot in Scheiben.«
Und den Kühlschrank: »Käse, Schinken, Gurken, Tomaten.«
Sein Gesicht verdüsterte sich. Er trug Slipper, ein weißes Businesshemd und eine graue Anzughose.
»Und wenn du schon dabei bist«, fuhr die Frau fort, »mach mir auch gleich eins. Und vielleicht möchte unsere junge Besucherin …?«
Tessa lächelte. »Nein, danke.«
»Oder aber«, sagte die Frau zu ihrem Mann, »du könntest mich hübsch zum Essen ausfuhren.«
Grummelnd verzog sich der Mann in einen anderen Teil des Hauses. »Er ist gerade in den Ruhestand getreten«, erklärte die Frau, »und weiß nichts mit seiner Zeit anzufangen. Hat noch nie was für sich selbst machen müssen. In fünf Jahren ist er unter der Erde«, fügte sie voller Verzweiflung und Kummer hinzu.
Tessa ertappte sich dabei, wie sie an Hal Challis dachte und daran, wie er wohl im Ruhestand sein würde. Himmel, bis dahin waren es noch fünfundzwanzig Jahre. Würde sie dann auch noch da sein? Zumindest konnte er für sich selbst sorgen, und er hatte außerhäusliche Interessen, sein vermaledeites Flugzeug. Das beruhigte sie auf merkwürdige Weise; sie war einfach nicht in der Lage, sich Challis alt oder gebrechlich vorzustellen, sondern für immer jung und agil. Dann begann sie, die Frau nach dem Paar zu befragen, das auf der anderen Straßenseite gelebt hatte, und nach dessen furchtbarem Tod.
Tessa erfuhr nicht viel, doch der Tee munterte sie wieder auf, und die Frau bot ihr kluge, ironische Unterhaltung.
»Er arbeitete im Internierungslager, müssen Sie wissen.«
Tessa erstarrte inwendig. »Ja.«
»Mein Mann glaubt, dass die Flüchtigen Mr. Pearce und seine Frau erschossen haben.«
»Ich verstehe.«
Die Frau betrachtete Tessa und legte den Kopf zur Seite. Tessa rechnete schon mit einer Tirade hässlicher Bemerkungen, aber die Frau sagte nur: »Das ist natürlich vollkommener Blödsinn.« Sie beugte sich über den kleinen Küchentisch und packte Tessa beim Handgelenk. »Lassen Sie ja nicht in Ihrer guten Arbeit nach, meine Liebe. Wir sind eine Gemeinde von Kleingeistern mit leeren Herzen und leeren Taschen, wenn es um die Asylbewerber geht.«
Als Tessa wieder ging, fand sie, dass doch nicht alles auf der Welt nur schlecht war, und was für ein toller Satz das war mit den Kleingeistern, den Herzen und den Taschen; den wollte sie verwenden und so der Frau mit den grauen Haaren Anerkennung zollen und Dank sagen.
26
Am Mittwoch war die Einsatzzentrale für die Suche nach Munro bereitgestellt worden, also trafen sich Donnerstagmorgen Challis, Scobie, Ellen und ein paar weitere CIB-Leute in einem kleinen Konferenzzimmer. Keine zusätzlichen Computer, Telefone oder Leute.
»Wir sind auf uns gestellt«, sagte Challis. »Im Prinzip bekommen wir allerdings Unterstützung durch die Uniformierten.«
Die Polizisten grinsten sich ironisch an. Sie konnten sich Kellocks ungefällige, streng den Regeln entsprechende Antwort auf Challis’ Anfrage bildhaft vorstellen.
»Also«, fuhr er fort, »wir haben drei Leichen an zwei verschiedenen Orten: einen Anwalt namens Seigert, der offenbar in den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages im Schlaf erschossen wurde, und ein Ehepaar, Mostyn und Karen Pearce, die später umkamen.«
Challis seufzte und berührte in einer plötzlichen Geste der Erschöpfung mit den Fingern die Schläfe. »Beide Fälle werden durch die Suche nach Ian Munro noch verkompliziert. Seigert war früher mal sein Anwalt, die Pearces seine Nachbarn, und es gibt Beweise dafür, dass Pearce ihn bei der RSPCA wegen des Zustandes einiger Schafe angeschwärzt hat. Der Tierschutzinspekteur, der der Sache nachging, wurde von Munro bedroht, also statteten ihm zwei Constables einen Besuch ab. Munro ist ein Mann, dem schnell die Sicherung durchknallt, der chronisch verschuldet ist und offenbar
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