Flugrausch
möchte ich, dass Sie alle Möglichkeiten erwägen, in beiden Gegenden weiter Klinken putzen, Bankkonten überprüfen, Schreibtische und Computer durchsuchen, herausfinden, ob sie Feinde oder zwielichtige Bekanntschaften hatten. Pearce hat im Internierungslager gearbeitet. Wenn er ein Schinder war, hat ihn vielleicht ein Entflohener umgebracht. Sie wissen also, was zu tun ist.«
»Da wäre noch was«, warf Ellen ein. »Ist allerdings etwas weit hergeholt.«
Challis legte den Kopf zur Seite und sah sie an.
»Dwayne Venn«, sagte sie. »Gewalttätig genug wäre er.«
»Erläutern Sie das.«
»Venn und die Tully-Schwestern haben offenbar an der Five Furlong Road Müll abgeladen, gleich in der Nähe der Siedlung, wo die Pearces wohnten. Irgendjemand – vielleicht Pearce – hat den Müll entdeckt, ist ihn durchgegangen und hat einen Brief gefunden, der an Dwayne Venn und Donna Tully adressiert war. Die Kommune wurde verständigt, es fand eine Untersuchung statt, und Venn bekam einen Strafzettel wegen Umweltverschmutzung. Er drohte dem Mann, der ihm den Beschluss überbrachte, ihn umzubringen.«
»Aber woher sollte Venn wissen, dass Pearce ihn hingehängt hatte?«, fragte Sutton. »Und wo wir schon mal dabei sind, woher sollte Ian Munro wissen, dass Pearce ihn bei der RSPCA angeschwärzt hat?«
Challis lächelte ihn an. »Genau. Vielleicht wusste er das gar nicht. Vielleicht hat Pearce noch jemand anderen gegen den Strich gebürstet.«
Einen Augenblick saßen sie grübelnd da. Ellen sagte: »Dann ist da noch die Sache mit Janet Casement.«
Challis hob die Hände, so als wollte er sie bremsen. »Lassen Sie uns das im Augenblick mal ein wenig beiseite schieben.«
»Aber sie ist gewarnt worden, dass Munro unterwegs ist?«, fragte Scobie.
»Ja. Wir haben alle gewarnt, die uns einfielen. Und nun zur Ankerleiche. Scobie, Sie haben doch den Anruf von dem Juwelier für mich entgegengenommen?«
Sutton warf einen Blick auf seinen Notizblock. »Die Rolex wurde repariert von einer Firma namens Timepiece in der Collins Street in der City.«
Challis nickte. »Ich werde da mal einen Besuch abstatten.«
»Noch was, Chef. Der Anker, mit dem die Leiche beschwert gewesen war, ist aus der Asservatenkammer verschwunden.«
Jemand hatte flinke Finger gehabt, jemand hatte nicht aufgepasst.
»Klasse«, sagte Challis. »Na, Sie wissen ja, das Übliche – Rundruf bei den Trödlern, Krempelhändlern, Antiquitätenläden …«
»Alles klar, Chef.«
Am späten Vormittag ging Challis bei Seigerts Witwe vorbei. Sie hatte rote, verheulte Augen, ihr Kummer war noch frisch. Eigentlich war er gekommen, um ihr ein paar vorsichtige Fragen zu stellen, aber er erfuhr nichts Neues und hatte auch nicht damit gerechnet; die Trauernden zu besuchen und Trost zu spenden gehörte ebenfalls zur Untersuchung eines Mordfalls. Ein einzelner Mord kann Schockwellen aus Leid und Wut auslösen und eine ganze Familie und deren Freunde überschwemmen. Challis repräsentierte die Ordnung. Wenn den Trauernden alles unter den Händen zerfiel, war er kompetent, professionell, konzentriert, und er war vertraut mit einem für die Hinterbliebenen verwirrenden System.
Manchmal hielten die Beziehungen zu trauernden Familien und Einzelpersonen über Jahre. An seiner Schulter konnte man sich ausweinen; er stellte eine Verbindung zu dem geliebten Opfer dar; er repräsentierte die Untersuchung selbst und bot so Hoffnung und Gerechtigkeit. Er gab ihnen seine Telefonnummer und redete manchmal zu nachtschlafender Stunde ruhig und geduldig mit den Trauernden, stattete ihnen ab und zu einen Besuch ab, brachte jene, die fast alle Hoffnung verloren hatten, mit ins Dienstzimmer und zeigte ihnen die Schreibtische, die Computer, die Fotosammlungen – und vermittelte ihnen ein Gefühl davon, dass die Gerechtigkeit am Werk war. Das bedeutete den Menschen manchmal sehr viel, und diese Bedeutung beruhte auf Gegenseitigkeit, denn wenn die Hinterbliebenen die Ermutigung und Wertschätzung spürten, dann tat er es auch.
Danach kehrte er nach Waterloo zurück und las die Zeugenaussagen. Insgeheim war er davon überzeugt, dass Munro Seigert erschossen hatte und eine unbekannte Person (oder mehrere) den Einmischer und seine Frau. Weiter kam er nicht mehr mit seinen Gedanken, denn eine Büroangestellte trat herein und gab ihm eine Notiz und ein Fax, bei dessen Anblick Challis murmelte: »Dass es so was noch gibt.«
»Bitte?«, fragte die Angestellte.
Er lächelte sie an. »Nichts.
Weitere Kostenlose Bücher