Flußfahrt
wir gerade noch das nackte Leben retten können. Wahrscheinlich nicht. Aber soll ich dir mal was sagen? Ich kann nachts schlafen. Ich habe keine Angst. Ich werde immer mehr ich selbst, so inkonsequent das auch sein mag. Ich habe mir nichts aufzwingen lassen. Ich bin das, was ich selbst sein will, und nur das bin ich.«
»Es gibt sicher noch eine Menge Leute, die genauso sind wie du«, sagte ich.
»Sicher gibt es solche. Aber ich bin es auf meine eigene Art. Es ist das gleiche Gefühl, wie wenn du den Pfeil losläßt und weißt, daß du alles richtig gemacht hast. Du weißt, wohin der Pfeil fliegt. Es gibt kein anderes Ziel für ihn.«
»Mein Gott, Lewis«, sagte ich, »du bist ganz schön verdreht.«
»Kann sein«, sagte er. »Jedenfalls glaube ich an den Willen zum Überleben. Auf welche Art auch immer. Und jedesmal, wenn ich hier heraufkomme, glaube ich mehr daran. Weißt du, bei allen sogenannten Errungenschaften des modernen Lebens kann ein Mann doch noch stürzen. Er kann sich das Bein brechen, wie Shad Mackey, kann da im Wald liegen, während die Nacht heraufzieht, obwohl er zwei Autos in der Garage hat und eine Frau und drei Kinder, die am Fernsehgerät gerade den Satelliten verfolgen, während er im Dickicht nach Atem ringt. Der alte Menschenkörper ist der gleiche wie eh und je. Er spürt noch immer die alte Furcht und den alten Schmerz. Als ich das letzte Mal hier oben war …«
»Ja, du hast ja selber mal mit so etwas Bekanntschaft gemacht, nicht wahr, alter Knabe?«
»Das will ich meinen«, sagte er. »Ich verdammter Idiot habe mir hier oben selber das Bein gebrochen. Es gibt hier einen großen Bach mit Forellen, wo ich angeln wollte, und es war sehr schwierig heranzukommen. Ich hatte gut zehn Meter Seil mit und ließ mich zum Bach runter und angelte … ja, ich angelte. Es war einer der besten Nachmittage, die ich je hatte. Als ich wieder hochkletterte, schnitt das Seil in meine rechte Hand, es schmerzte so höllisch, daß ich die Hand lockern und den Griff wechseln wollte, aber ehe ich mich’s versah, glitt mir das verdammte Seil durch die andere Hand; ich stürzte ab und lag auch schon unten. Ich fiel auf mein rechtes Bein, und ich hörte, wie etwas im Fußgelenk brach. Ich hatte allerhand zu tun, bis ich mit den langen Wasserstiefeln wieder aus dem Bach heraus war, und als ich dann versuchte, auf beiden Beinen zu stehen, wußte ich, was mir bevorstand.«
»Wie bist du dann wieder hochgekommen?«
»Ich bin Hand über Hand das Seil wieder hochgeklettert; und dann fing ich an zu humpeln und zu hopsen und zu kriechen. Und verdammt noch mal, ich kann dir nur wünschen, daß du nie auf einem Bein durch irgendwelche Wälder zu gehen brauchst. Ich hielt mich an jedem Baum fest, als war’s mein Bruder.«
»Vielleicht war er das auch.«
»Nein«, sagte Lewis. »Na, jedenfalls habe ich es schließlich geschafft. Das übrige weißt du.«
»Ja. Und nun geht’s wieder los.«
»Ja, da kannst du dich drauf gefaßt machen. Aber weißt du was, Ed? So ein intensives Erlebnis ist was ganz Besonderes. Das war ‘ne große Sache damals, trotz gebrochenem Knöchel und allem. Am Abend vorher habe ich noch den alten Tom McCaskill gehört. Das war die Sache wert.«
»Wer ist denn das?«
»Also, ich kann dir sagen. Du kommst hier herauf und kampierst im Wald, manchmal direkt am Fluß, manchmal im Dickicht, du jagst oder tust sonst was, und mitten in der Nacht hörst du dann den fürchterlichsten Schrei, der je aus dem Mund eines Menschen kam. Es gibt keine Erklärung dafür. Du hörst ihn nur, das ist alles. Manchmal hörst du ihn nur einmal, und manchmal hält es eine Weile an.«
»Wovon sprichst du denn bloß, um Gottes willen?«
»Da gibt’s hier diesen alten Kerl, der sich alle paar Wochen Schnaps verschafft oder sich selber welchen brennt – und dann nachts im Wald herumwandert. Man sagt, er hat keine Ahnung, wohin er eigentlich geht. Er geht einfach mitten durch den Wald und geht und geht, bis er schließlich anhält. Dann macht er sich ein Feuer und setzt sich hin mit seinem Schnapskrug. Wenn er betrunken genug ist, fängt er an zu brüllen. Das ist nun mal sein Tick. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Und wer weiß? Hast du es denn schon mal versucht?«
»Nein, aber vielleicht haben wir jetzt Gelegenheit dazu. Ich glaube nicht, daß sich mir die Chance ein zweites Mal bietet. Vielleicht brauchen wir gar nicht erst den Fluß runterzufahren. Vielleicht sollten wir einfach losgehen und saufen und
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