Flut: Roman (German Edition)
beiden Mädchen weiter vom Wolfsgehege fort und in Richtung der anderen Kinder, wobei sie ihre Arme um Tanjas und Rachels Schultern gelegt hatte und ihren eigenen Körper wie schützend zwischen ihnen und dem Wolfsgehege hielt; als hätte sie Angst, die Tiere könnten aus ihrem Gefängnis ausbrechen und ein Blutbad unter den Schülern anrichten. Erst als sie sich gute zehn Schritte entfernt hatten, ließ sie ihre beiden Schützlinge los, drehte sich herum und ließ sich halb in die Hocke sinken, damit sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. »Ist euch etwas passiert?«, fragte sie. »Seid ihr verletzt?«
Rachel schüttelte stumm den Kopf und biss gleichzeitig die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen. Die Schürfwunde unter ihrem Kleid brannte höllisch und sie fühlte etwas Warmes und Nasses an ihrem Oberschenkel herunterlaufen. Und offensichtlich hatte sie sich nicht so gut in der Gewalt, wie sie geglaubt hatte, denn die Lehrerin runzelte nur die Stirn, sah an ihr herab und machte dann ein erschrockenes Gesicht. Als Rachel ihrem Blick folgte, sah sie, dass ihr Kleid sich über der Hüfte dunkel verfärbt hatte.
Ohne ein weiteres Wort schlug die Lehrerin Rachels Kleid hoch, zog mit der linken Hand ihren Schlüpfer ein Stück herab und betrachtete die Wunde mit einer kühlen Sachlichkeit, die Rachel beinahe peinlicher war als die Tatsache, vor der ganzen Klasse halb nackt dazustehen. Nach einem Moment ließ sie den Rocksaum wieder sinken und sagte: »Das sieht übel aus und tut bestimmt ziemlich weh, aber es ist nicht gefährlich. Wir gehen nachher zum Arzt, aber im Moment musst du es aushalten. Glaubst du, dass du das kannst?«
Rachel nickte tapfer und die Lehrerin wandte sich an Tanja. »Und du?«
»Mir ist … nichts passiert«, antwortete Tanja stockend. Sie sah Rachel dabei an und ihre Augen waren riesig und voller Furcht, und sie blinzelte nicht ein einziges Mal. »Ich habe mich nur erschrocken.«
»Ganz bestimmt?«, vergewisserte sich die Lehrerin.
Tanja nickte stumm und ihre Lehrerin gab sich für den Moment mit dieser Erklärung zufrieden und stand auf. »Also gut. Ihr beide bleibt hier und rührt euch nicht von der Stelle. Kann ich mich darauf verlassen?«
Tanja nickte auch jetzt nur wortlos. Rachel reagierte gar nicht, aber das schien der jungen Frau als Antwort für den Augenblick zu genügen, denn sie drehte sich auf dem Absatz herum und eilte zum Wrack des Elektrokarrens und der Mauer zurück. Rachel sah, wie sie erschrocken die Hand vor den Mund schlug, als sie in die Tiefe blickte, und sie musste nicht fragen, was sie dort sah. Sie wusste es. Sie hatte es sogar schon vorher gewusst.
»Wie … wie hast du das gemacht?«, stammelte Tanja.
»Was?«
»Du hast mir das Leben gerettet«, murmelte Tanja. Sie klang eher verwirrt als erleichtert. »Wenn … wenn du nicht … wenn du mich nicht weggestoßen hättest, dann … dann –«
»Das war Zufall«, behauptete Rachel, aber Tanja schüttelte so heftig den Kopf, dass sie nicht weitersprach.
»Ich habe genau dort gestanden«, sagte Tanja. »Wenn du mich nicht weggestoßen hättest, hätte er mich erwischt und platt gequetscht.«
Nein, dachte Rachel, das hätte er nicht. Du wärest über die Mauer geschleudert worden und die Wölfe hätten dich gefressen. Sie sprach nichts davon aus und sie bezweifelte auch, dass Tanja ihre Antwort wirklich verstanden hätte – wie denn auch? Sie verstand es ja selbst nicht. »Das war nur ein Reflex«, sagte sie. »Nichts Besonderes.«
»Nichts Besonderes?« Tanja riss die Augen auf. »Du hast –«
»Ja, schon gut«, unterbrach Rachel sie in ärgerlichem Tonfall. »Dann habe ich dir halt das Leben gerettet. Aber jetzt bilde dir nichts darauf ein. Das hätte ich für jeden getan.«
»Aber du konntest es gar nicht sehen«, murmelte Tanja. »Du hast nicht mal in die Richtung geguckt.«
»Da musst du dich täuschen«, antwortete Rachel. Die Situation wurde ihr immer unangenehmer. Sie sollte sich freuen, sie sollte erleichtert sein, sich vorkommen wie eine Heldin, denn ganz egal, wie man es drehte oder wendete, Tanja hatte Recht: Hätte sie sie nicht zu Boden gestoßen, dann hätte sie der Wagen erwischt und entweder zu Tode gequetscht oder in die drei Meter tiefe Grube hinabgeschleudert, aber sie fühlte sich durch und durch elend.
»Also gut«, sagte sie. »Du hast recht. Ich hab dir das Leben gerettet. Aber dafür bist du mir was schuldig, oder?«
Tanja sah sie misstrauisch an.
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