Flut: Roman (German Edition)
hoch.
»Können wir jetzt endlich weiter?«
Rachel fuhr erschrocken zusammen und sah hoch und in Tanjas Gesicht. Den strafend zusammengezogenen Augenbrauen und der Schnute nach zu urteilen, die sie zog, schien ihre Freundin wohl schon eine ganze Weile neben ihr zu stehen und darauf zu warten, dass sie sich endlich vom Anblick der eleganten grauen Jäger losriss.
Ihre Freundin … wie sich das anhörte.
War Tanja ihre Freundin? Rachel dachte eine Sekunde lang ernsthaft über diese Frage nach und die Antwort war nicht nur ein ganz eindeutiges Ja, sondern auch ein schlechtes Gewissen, dass sie sich die Frage überhaupt gestellt hatte. Sie kannte das dunkelhaarige Mädchen erst seit knapp drei Monaten; seit dem ersten Schultag eben, was auch im Leben einer Siebenjährigen nicht mehr so ewig war, und wenn sie es recht bedachte, dann hatte Tanja nicht nur eine Menge guter, sondern auch einige echt ätzende Eigenschaften, zu denen allen voran eine gehörige Portion Egoismus und ein reichlich dünn geratener Geduldsfaden gehörten. Und trotzdem … Rachel hatte natürlich auch vorher schon Freundinnen gehabt, aber seit sie eingeschult worden war und Tanja kennen gelernt hatte, hatte sie begriffen, dass das gar keine echten Freundinnen gewesen waren, sondern allenfalls Spielkameradinnen. Tanja war … anders. Dabei hätte sie gar nicht richtig in Worte fassen können, was an ihr so anders war. Sie machte die gleichen Scherze wie die anderen, sie lachte über dieselben Scherze wie die anderen, sie lachte über dieselben Dinge und sie schlug dieselben Spiele vor, aber in Tanjas Gegenwart fühlte sie sich einfach wohl. Auf eine Art, für die sie nicht nur keine Erklärung hatte, sondern die gar keiner bedurfte. Wenn sie zusammen waren, hatte sie das Gefühl, genau an dem Ort zu sein, an den sie gehörte.
»Also – was ist jetzt?« Tanjas Stimme klang nicht nur deutlich ungeduldiger, sondern auch eine Spur schärfer – das war eine von ihren wenigen unangenehmen Eigenschaften. Sie war das, was ihre Mutter immer als einen dominanten Menschen bezeichnete, auch wenn Rachel nicht ganz sicher war, die Bedeutung dieses Wortes wirklich begriffen zu haben.
»Sie kommen doch sowieso hierher zurück.« Rachel machte eine Kopfbewegung zu den anderen Schülern, die zwanzig Meter entfernt vor dem Affenfelsen standen und mit dessen Bewohnern um die Wette lärmten, wobei die Paviane im Augenblick eindeutig im Rückstand waren. Der Zoo war, so groß er auch sein mochte, längs eines einzigen, in einem lang gestreckten, gewundenen Oval führenden Weges angelegt, und das Affengehege befand sich genau am Ende dieses Weges. Ihre Klassenkameraden – und die Aufsicht führende Lehrerin, die von Zeit zu Zeit einen misstrauischen Blick in Tanjas und ihre Richtung warf – konnten ihnen weder davonziehen noch auf andere Weise abhanden kommen, denn sobald die Besichtigung des Affengeheges abgeschlossen war, mussten sie notgedrungen wieder zu ihnen stoßen; was wohl auch der einzige Grund war, aus dem die Lehrerin nicht energischer darauf bestanden hatte, dass Rachel und Tanja beim Rest der Klasse blieben.
Tanja verdrehte die Augen, trat vollends neben sie und stellte sich überflüssigerweise auf die Zehenspitzen, um in das Wolfsgehege hinabzusehen. »Ich weiß überhaupt nicht, was du an den blöden Viechern findest«, sagte sie. »Sie sind langweilig. Die Affen sind viel spannender.«
»Dann geh doch hin«, sagte Rachel schnippisch.
»Und die Tiger vorhin waren viel stärker«, fuhr Tanja ungerührt fort, als hätte sie ihre Antwort gar nicht gehört. Auch das war etwas, das Rachel an ihr nicht besonders mochte: Sie hatte die Angewohnheit, Dinge, die ihr nicht in den Kram passten oder ihr einfach nicht gefielen, schlichtweg zu ignorieren.
»Aber sie sind eingesperrt«, antwortete Rachel.
Tanja beugte sich noch weiter vor, wobei sie sich mit beiden Händen an der Oberkante der rauen Bruchsteinmauer abstützte, obwohl sie ihr nahezu bis zum Brustbein reichte und wirklich keine Gefahr bestand, dass sie das Gleichgewicht verlor. »Das nennst du frei?«, fragte sie spöttisch. »Für mich sitzen sie in einem Loch.«
»Immer noch besser als hinter Gittern«, erwiderte Rachel. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie die Diskussion weitergehen würde, und bereute schon längst, sie angefangen zu haben.
Aber es war natürlich zu spät. Wenn Tanja einmal beschlossen hatte, eine Antwort nicht zu ignorieren, dann führte sie das
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