Flut: Roman (German Edition)
Geräusch von Metall, das zerriss, und Stein, der von einer brutalen Gewalt zerbrochen wurde. Der Geruch von wirbelndem, trockenem Kalk, dann ein Sturz; drei oder vier Meter und doch endlos, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag, der zuerst den Schmerz und dann alles Gefühl aus ihrem Leib vertrieb. Schreie. Furcht und durcheinander wirbelndes Licht und Schatten, und das Tappen leiser, kräftiger Pfoten. Ein dumpfes Knurren und plötzlich die grauenhafte Gewissheit, Beute zu sein …
Ohne zu wissen, was sie tat, wirbelte sie herum und stieß Tanja die flachen Hände mit solcher Kraft vor die Brust, dass das Mädchen drei Schritte zurückstolperte, ehe es mit hilflos rudernden Armen und einer Mischung aus einem Schmerzens- und einem Schreckensschrei nach hinten kippte. Irgendwie gelang es ihr, sich mit der rechten Hand an der Mauer festzuhalten, sodass sie nicht auf den Rücken schlug, sondern nur reichlich unsanft auf dem Hinterteil landete, und auch Rachel wurde von der Wucht ihres eigenen Stoßes zwei Schritte zurückgetrieben, ehe sie gegen die Wand prallte. Sie fiel nicht, handelte sich aber eine üble Schürfwunde an der Hüfte ein, die ihr noch Wochen zu schaffen machen sollte.
»Hey!«, schrie Tanja. »Bist du verrückt ge...«
Der Rest ihres Schreies ging in einem Wirbel aus verschiedenfarbigem Grün und einem entsetzten Keuchen und dem gleichen Laut unter, den Rachel gerade in ihrer Vision gehört hatte: dem dumpfen Knirschen, mit dem sich Metall verformte, und dem fast unheimlichen Laut, mit dem die fünfzig Jahre alte Bruchsteinmauer unter dem Anprall des Elektrokarrens zerbrach. Der Wagen durchstieß die Wand nicht. Er war weder schwer noch schnell genug, um das Hindernis zu durchbrechen, sondern blieb mit vollkommen eingedrückter Frontpartie in einem Wust aus Stein und verbeultem Metall stecken, aber der Fahrer wurde von der Wucht des Aufpralls aus seinem Sitz gerissen, schlug einen kompletten Salto über das Lenkrad und landete drei Meter tiefer auf dem harten Betonboden des Wolfsgeheges.
Hinter ihnen wurden erst ein einzelner, dann die erschrockenen Schreie aus mehr als zwei Dutzend Kinderkehlen laut, und Rachel sah aus den Augenwinkeln, wie eine der beiden Lehrerinnen mit weit ausgreifenden Sätzen herangerannt kam, während die andere genau richtig reagierte und die Klasse zurücktrieb oder es wenigstens versuchte. Rachel selbst sah kaum hin. Wie betäubt starrte sie in die Tiefe, in der das Drama in seinen zweiten Akt ging – dessen Verlauf und Ende sie ebenfalls mit unerschütterlicher Gewissheit kannte.
Wie sich später herausstellen sollte, war der Unfall nicht einmal die Schuld des Fahrers gewesen. Er hatte keineswegs die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Vielmehr hatte es eine äußerst unwahrscheinliche Verkettung unglücklicher Umstände und Defekte an seinem Wagen gegeben, so dass der Elektrokarren weder auf die Bremse noch auf die Lenkung angesprochen hatte. Jetzt jedenfalls war der Mann dort unten und bei Bewusstsein, und allem Anschein war er auch nicht so schwer verletzt, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Hinter ihm stürzten immer noch vereinzelte Steine aus der zerstörten Mauer und polterten in die Tiefe, aber er hatte sich bereits wieder auf Hände und Knie erhoben und sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um.
Rachel schlug entsetzt die Hand vor den Mund, als sie sah, wie sich zwei Wölfe der knienden Gestalt näherten. Die Tiere waren im Zoo geboren und aufgewachsen. Sie hatten niemals lebende Beute geschlagen und niemals Blut geleckt und sollten eigentlich nicht gefährlicher als die großen Hunde sein, als die Tanja sie vorhin bezeichnet hatte. Vielleicht waren es seine hektischen Bewegungen. Vielleicht war es das Blut, das aus zahlreichen Hautabschürfungen und Rissen quoll und dessen Geruch Jahrmillionen alte Instinkte in den Tieren weckte, die sich nicht so einfach binnen einer Generation wegzüchten ließen. Was immer es auch war, der Mann kam nicht einmal mehr dazu, ganz aufzustehen, bevor ihn der erste Wolf ansprang.
Rachel schlug auch noch die andere Hand vor den Mund und wandte sich ab, und praktisch in der gleichen Sekunde war auch die Lehrerin zur Stelle. Mit einem einzigen Blick erfasste sie die Situation und zog zuerst Rachel und dann Tanja von der Mauer weg, um den Kindern den grässlichen Anblick zu ersparen.
»Jemand muss Hilfe rufen!«, schrie sie zu ihrer Kollegin zurück. »Schnell! Sie töten den Mann!«
Gleichzeitig schob sie die
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