Flut: Roman (German Edition)
entbrannte ein lautstarker, allerdings nicht sehr lang anhaltender Streit, als die Stewardess den vergeblichen Versuch unternahm, die Fluggäste auf ihre Plätze zurückzuschicken. Alles in allem vergingen noch einmal gute zwanzig Minuten, bis Rachel und Benedikt endlich die Maschine verlassen konnten.
»Willkommen in der Heiligen Stadt«, sagte Benedikt, als sie zum ersten Mal italienischen Boden betraten.
»Die Heilige Stadt?«, fragte Rachel missmutig. »Du verwechselst da etwas, glaube ich. Rom ist die Ewige.«
»Ich bin der Besserwisser hier«, sagte Benedikt fröhlich. »Also, wohin jetzt?«
Rachel tat so, als müsse sie sich in der weitläufigen Halle umsehen, um sich zu orientieren, und deutete dann wahllos nach links. »Dort.«
»Das meine ich nicht«, antwortete Benedikt. »Wohin geht es von hier aus?«
»Dorthin«, beharrte Rachel. Ihr Unterbewusstsein schien schon deutlich wacher zu sein als der Rest ihres Denkens. In der Richtung, in die sie gedeutet hatte, befanden sich nicht nur eine Anzahl kleiner Läden, die Bücher, Reiseutensilien, Zigaretten und alle möglichen anderen Waren feilboten, die sie im Moment ganz und gar nicht brauchten, sondern auch ein kleines Café.
Benedikt schien widersprechen zu wollen, besann sich dann aber anders und nickte. »Vielleicht hast du Recht. Auf ein paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.«
Sie machten sich auf den Weg zur anderen Seite der Halle, die auf verblüffende Weise ihrem Gegenstück am anderen Ende Europas ähnelte. Fiumicino war viel größer als der Brüsseler Flughafen, die Anzeigen auf den elektronischen Tafeln waren in Englisch und Italienisch abgefasst statt in Englisch und Französisch, und die Leuchtreklamen und Werbeplakate schrien ihre Botschaften in Italienisch hinaus, aber damit hörten die Unterschiede auch schon beinahe auf: Es war dunkel, obwohl eigentlich eine strahlend helle Hochsommersonne durch das Glasdach scheinen sollte. Draußen goss es wie aus Eimern und von der viel gerühmten südländischen Fröhlichkeit war nicht einmal mehr die Spur einer Spur zu entdecken. Die Gesichter, in die sie blickte, wirkten angespannt und blass und sie sah eine Menge Augenpaare, in denen die nackte Angst geschrieben stand. Zahlreiche Polizisten waren unterwegs und die Anzahl der Flüge, die ersatzlos gestrichen worden waren, war noch weiter angestiegen. Auf mehr als die Hälfte.
Die meisten Tische in dem kleinen Cafe waren leer und es gab eine weitere Parallele zu Brüssel: An der Wand über der Bar war ein Fernseher aufgehängt, auf dessen Monitor eine Nachrichtensendung flimmerte und auf den sich die gesamte Aufmerksamkeit der Kellner konzentrierte. Vermutlich zu Recht, dachte Rachel, aber sie sah nicht hin. Es machte es nicht besser, immer wieder dieselben Bilder zu betrachten. Nicht bei diesen Bildern. Der Schrecken, den sie transportierten, gehörte nicht zu der Art, an die man sich gewöhnen konnte.
»Meinst du nicht, dass es allmählich an der Zeit ist, mir zu verraten, wohin wir eigentlich wollen?«, fragte Benedikt, während er sich einen der unbequem aussehenden Stühle aus verschnörkeltem weißem Metall heranzog.
Rachel sah auf die Uhr, verwandte eine geschlagene Sekunde darauf, der Position der Zeiger einen Sinn abzugewinnen, und sagte: »Nein.« Sie ließ sich auf einen der anderen Stühle sinken. Sie waren tatsächlich so unbequem, wie sie aussahen.
»Wir haben nicht alle Zeit der Welt«, sagte Benedikt.
»Die brauchen wir auch nicht.« Rachel sah noch einmal auf die Uhr. »Aber wir haben zwei Stunden.«
»Bis wann?«
»Bis der Zug fährt«, antwortete Rachel. Sie unterdrückte ein Gähnen.
»Wohin?«
Rachel schenkte ihm ein müdes Lächeln und fuchtelte so lange mit beiden Händen in der Luft herum, bis es ihr endlich gelang, die Aufmerksamkeit eines Kellners zu erregen. Der Mann riss sich mit sichtlichem Widerwillen vom Anblick des Fernsehgerätes los, warf mit gekonntem Schwung ein Handtuch über seine Schulter, das nur unwesentlich weniger schmutzig war als sein Hemd, und schlenderte mit einer Gelassenheit heran, die schon an Provokation grenzte. Eigentlich ungewöhnlich für einen italienischen Kellner. Aber der Gedanke an den bevorstehenden Weltuntergang schien selbst seinen Arbeitseifer zu dämpfen.
»Si?«
»Due espressi, prego«, antwortete Rachel. Der Kellner schlurfte ohne erkennbare Reaktion wieder davon und Benedikt hob überrascht die Augenbrauen.
»Du spricht Italienisch?«
»Si«, antwortete
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