Flut: Roman (German Edition)
Naturgesetz folgend dem ungünstigsten aller nur vorstellbaren – kam der Kellner und brachte die beiden Tassen Espresso. Als er ging, hatte sich Benedikt wieder gefangen. Das unsichere Flackern in seinem Blick war erloschen und seine Hände hatten aufgehört zu zittern.
»Es wäre leichter gewesen, wenn du mir die Wahrheit gesagt hättest«, bestätigte Rachel.
»Die Wahrheit?« Benedikt griff nach seiner Tasse und führte sie mit beiden Händen zum Mund, ohne jedoch zu trinken. »Manchmal gibt es Dinge, die man einfach nicht wahrhaben will«, sagte er bitter. »Außerdem wäre es nicht die Wahrheit gewesen. Darkov ist nicht mein Vater.«
»Oh, ich verstehe«, antwortete Rachel. »Er hat nur zufällig den gleichen Namen wie du.«
»Ich trage den gleichen Namen wie er«, sagte Benedikt. »Das ist ein Unterschied.« Er trank nun doch einen winzigen Schluck, stellte die Tasse zurück und starrte an Rachel vorbei ins Leere. »Pjotr Darkov ist nicht mein richtiger Vater«, begann er. »Er hat mich wie seinen eigenen Sohn aufgezogen, aber er hat mich nicht in dem Glauben gelassen, mein leiblicher Vater zu sein. Das hat nichts geändert – ich habe ihn trotzdem geliebt; vielleicht noch mehr, als wenn ich ihn für meinen Vater gehalten hätte. Ich bin bei ihm und seinen bezahlten Soldaten aufgewachsen. Alles, was ich weiß und kann, habe ich von ihm gelernt. Und bis gestern war ich sogar stolz darauf.«
»Bis gestern?«
»Bis ich gesehen habe, wozu er fähig ist.«
Schade. Sie hatte auf eine andere Antwort gehofft. Sie hatte darum gebetet. Aber die Zeiten, in denen ihre Gebete erhört wurden, waren wohl endgültig vorbei.
»Also gut.« Benedikt atmete so schwer ein wie ein Asthmatiker, der einen besonders schweren Anfall herannahen fühlt und weiß, dass der lebensrettende Inhalator unerreichbar weit weg ist. »Der Moment ist vielleicht nicht der beste, aber wahrscheinlich gibt es keinen guten Moment dafür. Den größten Teil der Geschichte kennst du ja bereits, aber ich erzähle dir jetzt den Rest. Wenn du willst, dass ich danach gehe und dich allein lasse, dann tue ich es.« Sein Blick löste sich von jenem imaginären Punkt im Nichts und fixierte Rachel. »Ich war einen Tag alt, als ich zu Darkov kam. Meine leiblichen Eltern wurden getötet, von einem fanatischen Priester, der glaubte, die Welt vor dem Antichrist retten zu müssen. Darkov hat mich gerettet, sonst hätte der Priester mich ebenfalls umgebracht. Kommt dir das bekannt vor?«
»Sollte es?«, fragte Rachel beunruhigt.
»Vielleicht«, antwortete Benedikt. »Vielleicht auch nicht.« Er lachte, ganz leise und so bitter, dass es sich mehr wie ein Schluchzen anhörte.
»Du fragst dich immer noch, warum ich meinen Vater verraten und mich gegen meine Kameraden gewandt habe, um dich zu beschützen, habe ich Recht? Ich will dir sagen, warum. In jener Nacht, in der Torben De Ville meine Eltern getötet hat, wurden zwei Kinder geboren. Ein Junge und ein Mädchen. Darkov hat mich in Sicherheit gebracht, aber De Ville ist mit dem anderen Kind entkommen. Er hat das Kind in eine kleine Stadt im Rheinland bringen lassen, wo es bei Pflegeeltern aufwachsen sollte, und um seine Spuren zu verwischen, hat er dafür gesorgt, dass am gleichen Tag noch vier weitere Säuglinge zu Pflegefamilien kamen.«
»Das … das ist nicht wahr«, murmelte Rachel.
»Ich fürchte, es ist wahr«, sagte Benedikt. »De Ville ist vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der weiß, welches der fünf Mädchen dasjenige ist, von dem in der Prophezeiung gesprochen wird. Aber es ist trotzdem die Wahrheit. Du willst wissen, warum ich dir helfe? Es gibt eine Chance von eins zu fünf, dass du meine Schwester bist, Rachel.«
Kapitel 11
Dank der Großzügigkeit, mit der der frisch verheiratete Marc Schneider seine Urlaubskasse ausgestattet hatte, waren sie zumindest fürs Erste nicht darauf angewiesen, sich auf illegale Weise Bargeld zu beschaffen. Die Summe, die sich in seiner Brieftasche fand, war mehr als ausreichend, zwei Bahntickets für jedes Fahrtziel innerhalb Italiens zu kaufen und ihnen auch darüber hinaus ein Polster zu verschaffen, mit dem sie schlimmstenfalls noch eine Woche durchhalten konnten – in einer Zeit, in der sich die allermeisten auf ihre EC- und Kreditkarten verließen und in der Bargeld nicht nur außer Mode zu kommen begann, sondern schon fast dazu angetan war, Misstrauen zu erwecken, war dies deutlich mehr, als sie hatten erwarten können.
Benedikt hatte sich
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