Flut: Roman (German Edition)
anderes konnte – wenigstens so ein wenig Trost zu spenden. Aber nicht einmal das konnte sie.
»Er ist immer noch dein Vater«, sagte sie.
»Ja«, antwortete Benedikt. »Und wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich ihn töten.«
***
Fast auf die Minute genau eine Stunde später erreichten sie Norcia. Rachel kam es im Nachhinein fast wie ein Wunder vor, dass der Wagen die annähernd sechzig Kilometer durchgehalten hatte, aber der altersschwache Fiat hatte etwas von einem betagten, unansehnlich gewordenen und störrischen Esel: er war ebenso hässlich, entwickelte nur zu oft ebenso seinen eigenen, nicht ganz nachvollziehbaren Willen und erwies sich als Transportmittel als ebenso unbequem, letzten Endes aber auch als genauso zuverlässig. Der Regen hatte nicht nachgelassen, aber nach einer Weile hatten sie eine Straße erreicht, die sich in deutlich besserem Zustand befand; auch sie ähnelte irgendwie mehr einem Fluss als einem von Menschenhand geschaffenen Weg, denn auch auf ihr stand zentimeterhoch das Wasser und der Unterschied zwischen dem geteerten Weg und dem Gelände daneben existierte nur noch in der Theorie. Aber die abgefahrenen Reifen des Fiat fanden auf dem Grund dieses breiteren Flusses besseren Halt und es gab weniger Schlaglöcher, durch die sie rumpelten, ein Luxus, den man wohl erst dann richtig zu würdigen wusste, wenn man eine Weile in einem Wagen gefahren war, dessen Stoßdämpfer in etwa die gleiche Rolle spielten wie Sandsäcke an einem Fesselballon – Ballast. Sie hatten zwei kleinere Ortschaften und mehrere einzeln stehende Gehöfte passiert und Rachel hatte eigentlich damit gerechnet, dass Benedikt die erste sich bietende Gelegenheit nutzen und einen anderen Wagen für sie organisieren würde. Er hatte jedoch nicht einmal angehalten oder auch nur den Fuß vom Gas genommen; vielleicht hatte er Angst, dass sich der Wagen danach nie wieder in Bewegung setzen würde, vielleicht war er auch einfach der vollkommen richtigen Auffassung, dass man ohne Not kein Mitglied eines funktionierenden Teams austauschen sollte. Rachel hatte ihn nicht darauf angesprochen, so wenig wie auf irgendetwas anderes – tatsächlich hatten sie während der vergangenen Stunde überhaupt nicht miteinander gesprochen. Was er über Darkov gesagt hatte, hatte sie schockiert, viel mehr aber noch hatte es ihr klargemacht, in welch entsetzlichem Maß er verletzt war. Viel tiefer, als sie sich vermutlich selbst jetzt noch vorstellen konnte, und viel mehr, als sie nachzuempfinden in der Lage war – oder zu verstehen. Sie konnte begreifen, was es heißen musste, verraten worden zu sein, auch und gerade von jemandem, dem man sein Leben lang vertraut hatte. Sie konnte sich zumindest vorstellen (ein wenig aus eigener Erfahrung), was es hieß, sich eingestehen zu müssen, dass alles falsch war, woran man sein Leben lang geglaubt hatte, und sie konnte zumindest erahnen, wie es sich anfühlen musste, von dem Menschen verraten worden zu sein, dem man bisher vorbehaltlos und immer vertraut hatte. Was sie nicht verstehen konnte, war, wie aus diesem Vertrauen binnen eines einzigen Augenblickes ein so tödlicher Hass werden konnte. Benedikts Worte waren ernst gemeint gewesen. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass er Pjotr Darkov mit bloßen Händen und ohne zu zögern getötet hätte, wäre er vorhin bei ihnen gewesen. Möglich, dass die Zeit seinen Hass ein wenig besänftigen würde; wahrscheinlich sogar, dass er den Söldnergeneral nicht töten würde, wenn bis zu ihrem Wiedersehen nur genug Zeit verstrichen war, dass aus dem Gefühl ohnmächtiger Wut und Enttäuschung jene Mischung aus Frustration und zumindest teilweise aus Vernunft herrührender Resignation geworden war, die einem solchen Gefühlsausbruch fast immer zu folgen pflegte. Aber vorhin, als sie in den Wagen eingestiegen und losgefahren waren, da hätte er es getan. Für eine Weile wäre er dazu fähig gewesen.
Und sie fragte sich, wozu er noch fähig war, wenn es die Umstände ergaben.
Ihre eigenen Gedanken ließen sie in einem sonderbaren Zwiespalt der Gefühle zurück. Benedikts Schmerz war nicht gespielt, sondern echt; sie konnte ihn fühlen wie ihren eigenen. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas … falsch daran war. Sie konnte nicht begründen, was, nicht einmal, woher dieses Gefühl – das fast die Intensität einer Gewissheit hatte – kam, aber sie schämte sich seiner. Da es ihr grundlos erschien, war es nicht nur ungerecht, sondern kam
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