Flut: Roman (German Edition)
sie.
»De Ville?« Diesmal reagierte Benedikt: Er drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte sie eine endlose Sekunde lang auf eine Art an, von der sie nicht wusste, ob sie überrascht oder feindselig war. Vielleicht beides. »Du hast mit ihm über Darkov gesprochen?«
»Er hat mir von euch erzählt«, korrigierte ihn Rachel. »Das ist ein Unterschied.«
»Dann hat er dir nicht die Wahrheit erzählt«, sagte Benedikt. »Wir sind keine Armee. Und auch keine Terroristen. Wir waren nie viele. Acht oder zehn. Manchmal ein Dutzend. Niemals mehr.«
»Dann hat er fast die Hälfte seiner Männer verloren, als sie uns auf dem Schrottplatz aufgelauert haben«, sagte Rachel nachdenklich. Erst nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr klar, was sie da eigentlich gesagt hatte, und sie drehte sich mit einem schuldbewussten Blick zu Benedikt herum. Er erwiderte ihn nicht, obwohl er ihn spüren musste, sondern starrte konzentriert nach vorne, aber seine Hände umschlossen das Lenkrad plötzlich mit solcher Kraft, dass sie tatsächlich Angst bekam, er könnte es auseinanderbrechen.
»Entschuldige«, murmelte sie.
Benedikt zwang ein schmallippiges Lächeln auf seine Züge. »Da gibt es nichts zu entschuldigen«, sagte er.
»Sie waren deine Freunde«, beharrte Rachel. »Es tut mir Leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich werde in Zukunft besser darauf achten, was ich sage.«
Das war ernst gemeint. Ganz egal, wer Pjotr Darkov war und was er getan hatte: Er war Benedikts Adoptivvater und auf dieser Ebene spielte es keine Rolle, was er ihm angetan hatte. Sie hatte nicht das Recht, das Messer in der Wunde herumzudrehen und ihm noch mehr Schmerz zuzufügen.
Für endlose Minuten machte sich Schweigen zwischen ihnen breit; eine Stille, die nun zwar vom Kreischen des überlasteten Motors und von dem unangenehmen, rhythmischen Geräusch der fast nutzlosen Scheibenwischer des Fiat durchdrungen wurde, trotzdem aber genau so tief und unheilschwanger zu sein schien wie die Stille, der sie vorhin im Wald begegnet war. Dann sagte Benedikt plötzlich leise und in völlig verändertem Ton: »Er hat mich belogen.«
»Dein Vater?«
»Darkov«, sagte Benedikt.
Rachel schauderte. Darkov … Ganz plötzlich und noch bevor Benedikt weitersprach, begriff sie, was mit ihm geschehen war. Mit einem Mal war ihr klar, warum er seine Kraft verloren hatte, woher diese unendlich tiefe Verzweiflung kam, die sie in seinen Augen las, und dieser Zorn, der so schmerzhaft und Kräfte verzehrend war, weil das Ziel, auf das er sich richtete, niemals erreicht werden konnte.
»Seit ich denken kann, hat er mir erzählt, dass ich einer der Auserwählten bin. Dass ich eine Aufgabe habe, die wichtiger ist als alles andere.« Er lachte bitter. »Dass wir Gottes Werkzeuge sind, dazu ausersehen, seinen Willen zu vollziehen, und dass ich eines Tages genau wissen werde, was zu tun ist.«
Aus dem Mund jedes anderen und in jeder anderen nur vorstellbaren Situation hätten diese Worte nach einem eindeutigen Anfall von Größenwahn geklungen. Und wenn schon nicht danach, dann nach verletztem Stolz und gekränkter männlicher Eitelkeit. Aber sie spürte, dass es das nicht war. Benedikt war verletzt, so tief und nachhaltig, dass er an dieser Verletzung vielleicht zugrunde gehen würde, aber aus einem anderen, viel schlimmeren Grund.
»Vielleicht hatte er ja Recht damit«, sagte sie.
»Das spielt keine Rolle«, sagte Benedikt bitter. »Er hat mich belogen. Verstehst du denn nicht?«
Rachel verstand tatsächlich nicht ganz, worauf er hinauswollte, und schüttelte andeutungsweise den Kopf.
»Er hat mich die ganze Zeit über nur benutzt!« Benedikt schrie fast. »Er hat mir nie getraut! Dieses verdammte Ding!« Er schlug sich mit der rechten Hand auf den linken Oberarm, genau auf die Stelle, aus der er den vermeintlichen Peilsender herausgeschnitten hatte, und Rachel konnte sehen, wie er vor Schmerz zusammenfuhr und ihm die Tränen in die Augen schossen. »Er hat mir niemals getraut. Ich war die ganze Zeit über nur ein verdammtes Werkzeug für ihn!«
Sie spürte, dass sein Schmerz echt war; wirkliche Pein und nicht nur verletzter Stolz. Sie wollte irgendetwas sagen, um ihn zu trösten, aber ihr fielen keine Worte ein, die es nicht noch schlimmer gemacht hätten. Er tat ihr unendlich Leid. Zum ersten Mal, seit sie sich kennen gelernt hatten, verspürte sie das Bedürfnis, ihn zu berühren, ihn einfach in die Arme zu nehmen und ihm – wenn sie schon nichts
Weitere Kostenlose Bücher