Flut: Roman (German Edition)
sollte. Sie war mindestens hundert Mal mit diesem Bus gefahren und sollte den Weg kennen, aber Norcia wirkte so verändert, dass sie im ersten Moment Mühe hatte, die richtige Straße zu identifizieren. Der Regen schien nicht nur alle Farben aus dem Tag gewaschen, sondern den Dingen auch ihre Individualität genommen zu haben. Schließlich deutete sie – nicht ganz überzeugt – auf eine Straße auf der anderen Seite des unregelmäßig geformten künstlichen Sees. Es war erst zwei Tage her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war, und dennoch kam ihr Norcia plötzlich vor wie eine vollkommen fremde, abweisende Stadt. »Dort drüben.«
»Bist du sicher?« Benedikt schien ihre Unsicherheit zu spüren; vermutlich hörte man sie ihr deutlich genug an.
Trotzdem bekräftigte sie ihre Worte mit einem Nicken und sagte noch einmal: »Ja. Die Straße führt in die Berge hinauf.«
»Wie weit?«
»Eine halbe Stunde, mit dem Bus. Mit dem Wagen vielleicht zwanzig Minuten.« Sie versuchte zu lachen. »Der Bus hält so ungefähr an jeder Milchkanne, die am Straßenrand steht.«
Benedikt enthielt sich jeden Kommentars, steuerte aber die bezeichnete Straße an und sah dabei ein paar Mal nervös in den Rückspiegel. Rachel fragte sich, was er darin zu entdecken hoffte. Wenn es für sie so etwas wie Sicherheit überhaupt noch gab, dann waren sie im Augenblick in Sicherheit. Die Scheiben des Wagens waren beschlagen und außerdem so schmutzig, dass man vermutlich auch bei strahlendem Sonnenschein kaum hätte hineinsehen können. Darüber hinaus war dieser zweihundertfünfzig Jahre alte Fiat wahrscheinlich das allerletzte Fahrzeug, in dem irgendwelche Verfolger sie vermutet hätten.
Sie sah wieder nach oben und suchte die Unterseite der Wolkendecke ab, die sich weiter auf die Erde herabgesenkt zu haben schien und mittlerweile so massiv wie aus Eisen gegossen aussah. Als sie losgefahren waren, hatte sie die Sonne noch als verwaschenen Fleck irgendwo in ihrer Mitte erkennen können, jetzt aber war sie vollkommen verschwunden. Selbst das Wetterleuchten am Himmel hoch über den Wolken war kaum noch wahrzunehmen: ein blasses Flackern manchmal, wo gleißende Explosionen aus Licht sein sollten. Sie versuchte sich einzureden, dass es vielleicht daran lag, dass das Bombardement aus dem Weltall aufgehört hatte, aber sie wusste nur zu gut, dass dies nicht der Grund war.
Sie überquerten den Marktplatz und bogen in die Straße ein, auf die Rachel gedeutet hatte. Nachdem sie die ersten Häuser passiert hatten, war sie sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Der Wagen wurde langsamer, denn die Straße verlief nicht nur in zahlreichen engen, zum Teil rechtwinkligen Kehren, sondern stieg auch immer steiler an, so dass sie sich bald zu fragen begann, ob ihr altersschwaches Gefährt den Weg überhaupt schaffen würde. Benedikts Überlegungen schienen in die gleiche Richtung zu gehen, denn er sah immer nervöser abwechselnd auf den Tachometer und auf die Straße, und ein paar Mal warf er einen raschen, sonderbaren Blick in ihre Richtung, einen Blick, der ihre Beunruhigung und ihr nagendes Misstrauen noch steigerte, denn sie hatte mehr und mehr den Eindruck, dass er sich fragte, ob sie ihm die Wahrheit gesagt hatte.
Sie versuchte auch diesen Gedanken abzuschütteln, denn er war nicht nur wenig konstruktiv und hilfreich, sondern auch ziemlich unfair – es war noch nicht lange her, da hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie Benedikt trotz allem nicht hundertprozentig vertraute; woher also nahm sie die Arroganz, nun ihrerseits gekränkt zu sein, weil es so schien, als traue er auch ihr nicht?
Wie sich zeigte, war ihre Einschätzung ziemlich optimistisch gewesen. Nach vielleicht zehn Minuten blieben die letzten Häuser Norcias hinter ihnen zurück und der Wagen begann sich schnaufend die schmale Straße in die Berge hinaufzuquälen, die sie schon so oft mit dem Bus gefahren war. Durch das starke Gefälle stand wenigstens kein Wasser auf der Straße und Benedikt hielt auch nicht an jeder Milchkanne und jedem einzeln stehenden Haus wie der Bus, von dem sie vorhin gesprochen hatte, aber sie kamen trotzdem deutlich langsamer von der Stelle. Der Motor des Fiat heulte immer protestierender, und es kam ihr so vor, als würden sie beständig langsamer. Ein paar Mal hatte sie ernsthaft Angst, dass der Wagen die nächste Steigung nicht mehr schaffen würde. Sie erwies sich jedes Mal als unbegründet, aber Rachel wurde doch rasch klar, dass sie Castellino
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