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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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versetzt wie eine strenge Mutter einem Kind, das etwas getan hatte, das ihm ausdrücklich verboten war. Oder etwas angesehen, das nicht für seine Augen bestimmt war. Rachel schauderte innerlich. Diese Assoziation war kein Zufall. Seit sie ausgestiegen waren, war das Gefühl des Angestarrt- und Beobachtetwerdens wieder da. Anscheinend begann sie eine regelrechte Phobie davor zu entwickeln, sich unter freiem Himmel aufzuhalten.
    »Dazu müsste ich erst einmal wissen, wo die Sonne überhaupt ist«, antwortete sie mit einem Schulterzucken, fügte aber gleich darauf hinzu: »Wenn wir uns ein bisschen beeilen, schon.«
    Benedikt sah sie irgendwie zweifelnd an, erhob aber keinen Widerspruch, sondern zuckte mit den Schultern und setzte sich gehorsam in Bewegung, als sie losmarschierte.
    Das Gehen auf der steil ansteigenden Straße erwies sich als mühsamer, als sie erwartet hatte. Der Regen schlug ihnen direkt in die Gesichter und schien tatsächlich viel kälter geworden zu sein, und der bewaldete Hang zur Linken wirkte wie eine Mauer, von der der Wind abprallte, um sie zusätzlich zu beuteln. Ihre Zehen und kurz darauf ihre gesamten Füße waren bald schon gefühllos und sie begann am ganzen Leib zu zittern. Benedikt, der neben und einen halben Schritt hinter ihr ging und immer wieder im Gehen den Kopf drehte, um sich misstrauisch umzublicken, erging es nicht anders, auch wenn er sich selbstverständlich nichts anmerken ließ. Hinzu kam, dass das Gefühl, beobachtet zu werden, in Rachel keineswegs abnahm, sondern ganz im Gegenteil immer stärker wurde. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, dass sie offenbar nur einen Schub akuter Paranoia erlitt und auf dem besten Wege war, selbst zu Ende zu bringen, was ihren Verfolgern nicht gelungen war. Es nutzte nichts. Wenn sie die Augen schloss und ihrer Fantasie nur ein ganz klein wenig die Zügel schießen ließ, konnte sie es regelrecht sehen: einen schwarzen, vieläugigen Drachen, der reglos und mit ausgebreiteten Schwingen über den Wolken hing, bereit, die Welt mit seinem eisigen Atem zu versehren.
    Sie gingen noch einmal zwei- oder dreihundert Schritte weiter, dann blieb sie stehen, sah sich in einer fast getreulichen Nachahmung von Benedikts Bewegung nach rechts und links um und ließ ihren Blick schließlich auf dem steil ansteigenden, bewaldeten Hang zur Linken ruhen. Auch Benedikt blieb stehen und beobachtete sie sehr aufmerksam. Er sagte nichts, aber es war nicht besonders schwierig, die Gedanken zu erraten, die hinter seinen Augen Gestalt annahmen.
    »Vielleicht hast du Recht«, murmelte Rachel unsicher.
    »Womit?«
    Er hatte ja gar nichts gesagt.
    Rachel machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in die sie sowieso sah, zum Wald und zum Hügelkamm hinauf. Castellino lag unmittelbar auf der anderen Seite des Berges, jedenfalls wenn ihre Erinnerung sie nicht täuschte. Es war eine Sache, eine Strecke in einem überfüllten Bus zu fahren, in dem man abgelenkt war, in dem man – wenn auch unbequem – saß und das Vorüberziehen der Landschaft beobachten konnte, und eine ganz andere zu beurteilen, wie lang die Strecke wirklich war. Ihre Einschätzung, dass sie noch drei oder vier Kilometer von ihrem Ziel entfernt waren, war tatsächlich nicht mehr als eine Schätzung. Es konnten ebenso gut fünf oder sechs sein; ein Unterschied, der in einem Fahrzeug nicht besonders ins Gewicht fiel, zu Fuß und unter den gegebenen Umständen aber durchaus eine Stunde ausmachen konnte.
    »Versuchen wir es«, sagte sie.
    Benedikts Blick wurde nun eindeutig zweifelnd, auch wenn sie nicht sicher war, ob dieser Zweifel ihren Fähigkeiten als Pfadfinderin galt oder ob er sich fragte, ob sie den anstrengenden Marsch durch diesen Morastwald überhaupt bewältigen würde. Rachel selbst war auch nicht ganz sicher. Bisher hatte sie sich ganz gut geschlagen, wie sie fand, aber ihre Kräfte hatten Grenzen und die würden bald erreicht sein. Die Batterien waren leer; streng genommen lief sie bereits auf Notstrom. Doch wenn sie hier blieben und weiter diese Straße entlangliefen, dann bestand nicht nur die Gefahr, dass hinter ihnen plötzlich ein Wagen voll ziemlich missgelaunter Männer auftauchte, die mit Maschinenpistolen, Granaten und anderen Mordinstrumenten ausgerüstet waren, auch der Drache würde sich möglicherweise auf sie stürzen. Und so närrisch dieser Gedanke auch war, er brachte die Entscheidung.
    »Worauf wartest du?«, fragte sie. »Das Dorf liegt auf der anderen Seite. Es sind

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